: Familienpolitik ist kein bevölkerungs-politisches Finetuning, sagt Bert Rürup
Die allermeisten jungen Deutschen wollen sowohl Kinder als auch Karriere. Trotzdem wird ein Drittel kinderlos bleiben
taz: Der demografische Wandel hat uns im vergangenen Jahr 214.000 mehr Sterbefälle als Geburten beschert. Geht die familienfreundliche Rhetorik der Regierung ins Leere?
Bert Rürup: Jetzt kommen die geburtenschwachen Jahrgänge ins Reproduktionsalter – mit der Konsequenz, dass es dann auch bei unverändertem Gebärverhalten in absoluten Zahlen gesehen weniger Kinder gibt. Aber auch wenn man die relative Zahl ansieht, also die Zahl von Kindern, die Frauen im Durchschnitt bekommen, hat sich nichts verändert. Wir liegen immer noch bei rund 1,3 Kindern pro Frau und damit etwa ein Drittel unter dem bestandserhaltenden Niveau. Die Regierung hat in der Tat noch überhaupt nichts verändert.
Was kann Familienpolitik an der Geburtenrate ändern?
Familienpolitik sollte nicht auf ein bevölkerungspolitisches Finetuning abzielen. Im Übrigen gibt es auch keine wirklich belastbare Theorie des generativen Verhaltens. Man kann höchstens versuchen, von den bevölkerungspolitisch relativ erfolgreichen Nationen etwas abzuschauen. Auf jeden Fall ist es wichtig, bei den Wünschen der Menschen anzusetzen. In Deutschland wünschen sich 80 Prozent aller jungen Menschen sowohl Kinder als auch eine berufliche Karriere. Man sollte also Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb deren sie sich diese Wünsche erfüllen können. Gegenwärtig entscheiden die Menschen sich tendenziell gegen ein Kind, weil die Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind. Das ist das Problem.
Gesetzt den Fall, die Kinderbetreuung würde wirklich besser ausgebaut: Wäre das die Lösung?
Das wäre ein absolut richtiger Schritt, eine wichtige Verbesserung der Rahmenbedingungen. Eine andere sinnvolle Maßnahme wäre, die Kinderpause besser auszustatten: Sie muss kürzer werden, und sie muss besser bezahlt werden. Das ist wichtig, damit auch Väter die Pause machen können, ohne dass das Familieneinkommen zusammenbricht. Oder: Wer eine solche Pause macht, sollte sich währenddessen auch weiterqualifizieren können. Man darf in der Familienpolitik auf keinen Fall Anreize dafür setzen, dass sich Frauen aus dem Erwerbsleben zurückziehen, wenn sie Kinder bekommen.
Solche Anreize werden aber pausenlos gesetzt. Schließlich ist es für Frauen schwierig, mit Kind wieder voll arbeiten zu gehen. Zynisch könnte man fragen: Warum sollen Frauen denn angesichts dessen nicht mit den Kindern zu Hause bleiben?
Das ist genau da Problem: Viele Frauen bekommen aus Angst vor dieser Falle überhaupt keine Kinder. Die Zahl dieser Null-Kinder-Frauen ist in Deutschland hoch. Das unterscheidet unsere Geburtenentwicklung von der in anderen Ländern. 30 Prozent der Frauen des Jahrgangs 1965 werden kinderlos bleiben, bei den Akademikerinnen werden es 40 Prozent sein. Das Ziel muss sein, dass Frauen erwarten können, dass das von ihnen angestrebte Berufsleben nicht zu Ende ist, wenn sie Kinder bekommen.
Die Politik von Teilen der Unionsparteien, die auf die Frau im Haus setzt, ist also kontraproduktiv?
Ja, und zwar auch in ökonomischer Hinsicht. Je besser Frauen ausgebildet sind, desto teurer wird es für sie, wenn sie sich aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Denn damit geht einerseits ein höherer Einkommensverlust einher und andererseits eine gesamtgesellschaftliche Vergeudung von Humankapital. Inzwischen machen mehr Frauen Abitur als Männer, und gut qualifizierte Frauen können ein hohes Einkommen erwarten. Eine moderne Familienpolitik muss das berücksichtigen.
Die Arbeitsmarktpolitik der Regierung setzt aber auf die Teilzeitarbeiterin oder die Minijob-Mutter. Ist das nicht, realistisch gesehen, die Zukunft?
Man sollte nicht in den Pessimismus verfallen, unsere aktuelle, miserable Arbeitsmarktsituation einfach in die Zukunft fortzuschreiben. 2020 wird der Arbeitsmarkt ganz anders aussehen. Und für heute gilt: Teilzeitarbeit ist nichts Schlechtes, nur müssten das auch die Männer so sehen.
Allgemeine Arbeitszeitverkürzung? Die Politik marschiert gerade in die andere Richtung.
Pauschale Arbeitszeitverlängerungen sind genauso wenig ein Königsweg zu mehr Beschäftigung wie pauschale Arbeitszeitverkürzungen. Was hilft, ist mehr Flexibilität. Arbeitszeitkorridore, Arbeitszeitkonten, das sind die Stichworte.
Schweden gilt als leuchtendes Vorbild: Die Erziehungszeit wird gut bezahlt, die Kinderbetreuung hervorragend. Trotzdem sinkt die Geburtenrate. Nützt Familienpolitik überhaupt etwas?
Auch in Schweden wurde im Rahmen der Haushaltskonsolidierung einiges zurückgebaut. Dennoch können wir in der Familienpolitik einiges von den skandinavischen Ländern, aber auch zum Beispiel von Frankreich lernen.
Letztendlich gibt es aber keine Erfolgsgarantie für familienpolitische Maßnahmen. Nur: Ganz ohne Maßnahmen, die eine Realisierung des Wunsches sowohl nach Kindern als auch nach der beruflichen Karriere erleichern, kann man sicher sein, dass gar nichts passieren wird.
INTERVIEW: HEIDE OESTREICH