Wirtschaftswunder Chipkarte

Die IT-Branche hat eine neue Kundin entdeckt: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt

BERLIN taz ■ Was passiert, wenn über 70 Millionen Bürger mit einer Plastikkarte ausgerüstet werden sollen? Ein kleines Wirtschaftswunder: Die deutsche IT-Industrie rauft sich zusammen und schreibt der Regierung eine Gratisübersicht darüber, wie die neue Patientenchipkarte aussehen könnte. Vier verschiedene Verbände von IT-Firmen übergaben Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gestern die Expertise „Einführung einer Telematik-Architektur im deutschen Gesundheitswesen“.

Die Expertise bereitet die Einführung einer neuen Versichertenkarte vor. Mit Beginn 2004, spätestens bis zum 1. 1. 2006 will die Regierung die jetzige Plastikkarte für gesetzlich Versicherte durch eine „intelligente“ Chipkarte austauschen. So steht es auch in Ulla Schmidts Gesundheitsreformgesetz – und selbst die Opposition hat nichts dagegen. Diese „zweite Kartengeneration“ soll zunächst persönliche Kerndaten und die Auskunft enthalten, wer von der Medikamentenzuzahlung befreit ist. Außerdem soll ein digitales „eRezept“ speicherbar sein.

Die IT-Hersteller hoffen, dass mögliche dritte und vierte Karten-Generationen auch Krankenakten und Arztbriefe speichern dürfen – je aufwändiger, desto ertragreicher für die Firmen. Wird das gute Stück flächendeckend eingeführt, „wird Deutschland zur Lokomotive auf dem Markt der Gesundheitsinformationssysteme“, schwärmte Jörg Haas vom VHitG, einem Firmenverband, der Krankenhäuser mit Informationstechnologie ausstattet. „Das wird dann ein Exportschlager.“

Doch nicht nur die Wirtschaft setzt große Hoffnungen auf die neue Karte. Die Regierung will damit gleichzeitig sparen und die Behandlung verbessern. Schmidts Staatssekretärin Marion Caspers-Merck sagte, zwar sei das Ministerium „mittlerweile vorsichtig geworden, was die Einschätzung von Einsparpotenzialen angeht“. Aber allein durch das eRezept, das digital von Arzt und Apotheker verarbeitet werden kann, „rechnen wir mit einer Milliarde Euro im Jahr“.

Die Karte könnte verhindern, dass jemand Medikamente in falscher Kombination verschrieben bekommt. Erklecklich sind darüber hinaus die angepeilten Sparbeträge, wenn die Zuzahlungsbefreiungen nicht mehr missbraucht und die Karten nicht mehr illegal gehandelt werden können: Die Wirtschaft spricht von jährlich 2 Milliarden Euro.

Offen ließ Caspers-Merck gestern, wer die 1,3 Milliarden Euro Investitionskosten für Karten und Lesegeräte zahlen soll. Die Krankenkassen haben sich bislang nicht um die Chipkarte bemüht – schließlich entsteht ihnen kein Wettbewerbsvorteil, wenn alle mitmachen müssen. Die Versicherten – gegenüber Plastikkarten und Computern nach wie vor relativ skeptisch – soll ein nahe liegendes Mittel überzeugen: „An einen Beitragsbonus denken wir auf alle Fälle“, sagte Caspers-Merck. UWI