„Kleine Affäre oder große Liebe?“

Am Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht entscheidet sich die Zukunft eines Paares. Oder eines ganzen Lebens. Sagt der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann

INTERVIEW MONIKA GOETSCH

taz: Herr Kaufmann, Sie interessieren sich für die Liebe und dafür, wie Liebesgeschichten entstehen. Warum beschränken Sie Ihre Untersuchungen auf den Morgen danach?

Jean-Claude Kaufmann: Weil es gar nicht so einfach ist, von anderen Menschen etwas über die Liebe zu erfahren. Jeder möchte auf eine schöne Liebesgeschichte zurückblicken. Darum entspricht das, was man über die Liebe erzählt, selten der Wirklichkeit. Details werden unterschlagen, Entwicklungen umgeschrieben, Gefühle geschönt.

Man lügt?

Man verändert. Und folgt damit einem Ideal, einem Modell, das uns noch immer vorschreibt, wie eine schöne und wahre Liebesgeschichte zu verlaufen hat. Es ist das Liebesmodell aus dem Film „Titanic“: die Liebe auf den ersten Blick.

Die es so oft gar nicht gibt.

Der Anfang ist selten eindeutig. Widersprüchliche Gefühle regieren: Anziehung und Zweifel, Hingabe und Angst. Um sich und anderen eine schöne Liebesgeschichte zu präsentieren, löst man die Widersprüche auf – um den Preis dessen, was wirklich geschah.

Wie sind Sie diesen Täuschungsversuchen entkommen?

Ich habe einen Trick angewandt. Ich ließ mir keine vorgefertigten Liebesgeschichten erzählen, sondern die Geschichte eines einzigen Morgens, des Morgens nach der ersten Liebesnacht in all seinen erfreulichen und unerfreulichen Details. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Weichen gestellt werden, ob zwei zusammenbleiben oder auseinander gehen. Insofern entscheidet ein einziger Morgen mitunter über ein ganzes Leben.

Die Nacht davor hat Sie nicht interessiert?

Was in einer Liebesnacht passiert, ist doch bekannt. Jeder weiß, wie wichtig Sex ist. Nein, ich hatte ein anderes Anliegen. Ich war überzeugt, dass gerade die Dinge, die unwichtig scheinen, wirklich wichtig sind für das Entstehen einer Liebesgeschichte.

Welche Dinge denn?

In der Nacht glaubt man sich zu kennen. Man wird intim, ist einander nah. Der Morgen aber ist voll Überraschungen. Der Liebespartner zeigt ein anderes, bislang verborgenes Gesicht, neue, anziehende oder abstoßende Facetten seiner Persönlichkeit. Wie er spricht, wie er schweigt. Wie er auf die Toilette geht. Wie er sich wäscht. Wie er frühstückt. Das ist eine ganz eigene, fremde Kultur, die der eigenen nicht gleicht.

Ist es für die Liebe nicht ziemlich wurscht, ob man die Tür schließt, wenn man auf die Toilette geht?

Durchaus nicht. Der Alltag macht 90 Prozent des Lebens aus. Wenn zwei Menschen ein Paar werden, sind sie mit diesem Alltag konfrontiert und müssen lernen, ihn zu teilen. Die sexuelle Anziehungskraft mag noch so groß sein: Wenn der andere seine Schuhe und Kleider einfach am Boden rumliegen lässt, kommt es zum Krach.

Hat man am morgen danach überhaupt schon den Kopf frei für solche Alltäglichkeiten?

Aber ja. Man denkt wahrscheinlich nicht darüber nach. Aber man nimmt wahr, wie sich der Partner verhält, und sammelt Eindrücke und Gesten, verbucht Positives und Negatives und wertet aus. Manchmal ist das ein Schock: Agathe, eine Frau aus meiner Untersuchung, zum Beispiel war sehr verliebt in John. Aber als sie in seinem Bad nur ein altes, sehr schmutziges Handtuch vorfand, begann sie daran zu zweifeln, dass sie mit ihm zurechtkommen würde. Sie liebt Ordnung und Sauberkeit.

Klammern sich vor allem Frauen an solche Details?

Nein, Männer und Frauen verhalten sich da ziemlich ähnlich. Häufig haben die Männer Angst, sich einzulassen und damit die eigene Unabhängigkeit zu verlieren. Eine unschöne Unterhose wird da gern zum Vorwand, die Flucht anzutreten. Das ist natürlich ziemlich bequem.

Ist die Liebe so unbequem?

Die Fremdheit des anderen zu entdecken und auszuhalten ist nicht leicht. Hinzu kommen das eigene Zögern, die Zweifel, ob man sich auf die Welt genau dieses anderen Menschen einlassen soll oder nicht. In der Nacht davor ist alles vergleichsweise einfach: Man hat Sex, sitzt auf seiner kleinen Wolke und fragt nicht danach, was kommen wird. Am Morgen danach kehrt man ins Leben zurück. Ehe man sich’s versieht, ist man ein Paar. Das heißt umgekehrt: Wer fliehen will, sollte es bald tun. Sonst ist es vielleicht zu spät.

Die Liebesgeschichte beginnt mit dem Erwachen?

Mit dem Erwachen kommen die Fragen. Wo bin ich? Wer liegt neben mir? Ist das eine kleine Affäre? Oder die große Liebe? Je nachdem, wie man sich diese Fragen beantwortet, wird man dem anderen begegnen. Die Worte ändern sich und die Gesten und das Schweigen.

Worüber spricht man denn?

Über Alltägliches. Schmeckt das Croissant? Hast du gut geschlafen? Oft will man auch gar nicht sprechen. Dann ist es hilfreich, sich zu küssen: Das füllt die Lücken des Schweigens.

Die Müdigkeit macht das Reden nicht einfacher.

Meistens geht der Liebesnacht heute eine Feier voraus, eine Party, viel Ausgelassenheit, Alkohol. Dann hat man vielleicht einen ziemlichen Kater, muss aber zugleich über sein Leben reflektieren und die neue Identität, die sich vielleicht gerade herausbildet.

Im Verlieben bildet sich eine neue Identität?

Unbedingt! Wer liebt und sich bindet, muss seine alte Identität sterben lassen. Das ist ein schwieriger Prozess. Viele Liebesgeschichten scheitern heute daran, dass keiner bereit ist, seine Identität aufzugeben. Das ist ein weit verbreiteter Traum: einen Partner hinzuzugewinnen, ohne etwas von sich aufzugeben.

Was muss man aufgeben?

Wenn man ein Paar wird, ändert sich vieles; es ändern sich die Werte, die Rituale, es ändert sich, was man kocht, isst und trinkt, es ändern sich zum Beispiel auch die Freundschaften: Manche wird man behalten, manche verlieren, die Freunde des Partners treten hinzu, und es entstehen neue, andere Paarfreundschaften. Man tritt in ein anderes Leben ein und öffnet sein Leben dem anderen.

Man bricht mit seinen Gewohnheiten.

Und dabei scheint am Morgen danach gar nicht viel zu passieren. Die Situation ist banal und gewöhnlich. Aufstehen, frühstücken. Die Gefühle dagegen können ziemlich heftig sein. Man schämt sich, wenn man das Bett verlässt, will seinen Körper verbergen, fürchtet den Blick des anderen, fühlt sich nackt, nackter als in der Nacht, hat Angst. Zum Frühstück trinkt man Tee, obwohl man eigentlich immer Kaffee trinkt, und die alte Identität guckt einem dabei zu. Schon hat man sich auf den anderen und seine Gewohnheiten eingelassen. Die Veränderung beginnt sehr schnell. Sie bricht gewaltsam ins Leben ein, aber sie ist auch Arbeit.

Im günstigsten Fall haben sich dann zwei gefunden.

Und zwar aufgrund freier Wahl. Nicht schicksalhaft. Sondern selbstbestimmt.

War es nicht einfacher, als man noch nicht wählen konnte, sondern die Familie – oder der Glaube an das Schicksal – entschied, mit wem man zusammenzubleiben hatte?

Das war es bestimmt. Aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Die Wahl ist der Preis der Freiheit. Man weiß: Es gibt nicht den einen, vorbestimmten Lebenspartner, sondern viele mögliche Partner, mit denen man glücklich werden könnte.

Da kann man ja eigentlich nicht viel falsch machen.

Trotzdem herrscht die Angst vor, die falsche Wahl zu treffen und seine Chance zu verspielen. Man möchte den besten Partner erwischen. Schließlich geht es um eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben.

Obwohl es doch meistens nicht fürs ganze Leben ist.

Am Anfang einer Liebesbeziehung denkt aber niemand, dass es nur ein Jahr dauern soll oder zwei. Man wünscht sich Dauer und glaubt an sie.

Gibt es das denn überhaupt: die beste Wahl?

Nein. Man wird immer in ein anderes Leben eintauchen, ohne im voraus zu wissen, wohin das führt. Liebe ist ein Prozess. Sie ändert sich von Tag zu Tag.

Und wird irgendwann langweilig?

Früher dachte ich so. Ich war überzeugt, dass Routine die Gefühle schwäche. Inzwischen glaube ich etwas anderes. Es gibt eine besondere Form der Liebe, die ein Paar nach vielen Jahren der Gemeinschaft fast unmerklich verbindet. Eine Liebe, die mild ist und schützt. Man spürt Zärtlichkeit und Tiefe und Reichtum. Die Partner sind Komplizen in dieser sehr aggressiven, vom Wettbewerb bestimmten Welt.

Raten Sie also dazu, sich auf das Wagnis der Dauer einzulassen?

Nein. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Ich rate lediglich dazu, am Morgen danach mein Buch zu vergessen, nicht allzu viel zu reflektieren und den Morgen selbst zu genießen. Normalerweise gleicht ein Tag dem Vortag. Aber dieser Morgen ist anders. Sicher: Er ist schwierig. Aber er hat einen ganz besonderen Zauber. Darum sollte man ihn leben, wie er ist, sich treiben lassen mit offenen Sinnen.