: Indien erobert Pakistan friedlich mit Kricket
Kricket-Diplomatie zwischen Atomstaaten: Pakistan lernt, dass es in einer sportlichen Niederlage auch gewinnen kann
DELHI taz ■ Die Pakistantournee des indischen Kricketteams geht zu Ende. Gestern begann in Rawalpindi das letzte fünftägige so genannte Testmatch. Indien hatte zuvor die Best-of-five-Serie von eintägigen Spielen gewonnen, und siegte auch beim ersten der drei Tests in Multan. Ein historischer Sieg. Erstmals in 52 Jahren besiegte es Pakistan in einem Testmatch und dabei erstmals überhaupt auf pakistanischem Boden nach 21 Niederlagen oder Unentschieden.
Kricket ist trotz seiner aristokratisch-kolonialen Herkunft Nationalsport der beiden armen Nachbarländer. Sieg oder Niederlage sind gerade in direkten Begegnungen so etwas wie ein nationaler Triumph oder eine nationale Schmach. Gerade dem kleineren Pakistan geben Siege die Gewissheit, ebenbürtig zu sein, auch wenn es in den realen Kriegen immer verlor. Ein indischer Kommentator hatte deshalb vorab die Hoffnung geäußert, Indien möge verlieren. Denn sein internationales Ansehen gewinne an Profil, während Pakistan zunehmend als „gescheiterter Staat“ gelte. Ein Sieg gebe dem Land das nötige Selbstvertrauen für Kompromissfähigkeit in den Kaschmir-Verhandlungen. Eine Niederlage dagegen werde das nationale Belagerungsgefühl noch vertiefen und zu Unnachgiebigkeit führen.
Doch in den Niederlagen der letzten zwei Wochen zeigte Pakistan, dass es dabei auch gewinnen kann. Zwar war das Stadion von Multan fast leer, als Indien dem Gegner mit dem Fall des letzten Wicket den Gnadenstoß gab. Aber bis zum bitteren Ende hielten einige Zuschauer ein Banner, das auch schon in den Stadien von Karachi, Lahore, Peshawar und Rawalpindi allgegenwärtig war: Die beiden Nationalflaggen zusammengenäht, manchmal mit einem Tuchstreifen verbunden, auf dem „Frieden“ oder „Freundschaft“ steht.
Die indische Pakistantournee wurde zur friedlichen Eroberung des Nachbarn. Die Stadien, in denen indische Spieler früher wie eingekesselt waren, verwandelten sich in riesige Reklamesäulen für den Freundschaftswillen beider Völker, von Live-Sendungen bis in die letzten Dörfer des Subkontinents getragen. Das pakistanische Publikum feuerte lautstark das eigene Team an, belohnte aber jeden indischen Sieg mit Ovationen.
Die Freundschaftsgesten setzen sich außerhalb der Stadien fort. Trotz der schmerzlichen Testniederlage gab Pakistans Team dem Gegner danach ein Festessen. Es wurden Geschenke ausgetauscht, und vor dem Hotel kam es zum üblichen Autogrammrummel. Die indischen Spieler, die sich früher nicht aus dem Hotel wagten, besuchten Waisenkinder. Als Sport-Touristen erkannte indische Zuschauer wurden freundschaftlich gemobbt und zu Unbekannten nach Hause eingeladen. Natürlich kam es, erzählt eine Rückkehrerin, auch zu politischen Diskussionen. Doch sie konnten gegen die pakistanische Gastfreundschaft wenig ausrichten.
Die Tournee führte zu generöser Visavergabe beider Seiten. Pakistanische Geschäftsleute, Schriftsteller, Musiker, Akademiker, Abgeordnete oder einfache Leute wurden in den letzten drei Monaten in Delhi und Bombay mit offenen Armen empfangen. Sie wurden durch Partys, Interviews und Talkshows geschleust, als sollten die Jahre, in denen zwischen beiden Ländern eine unsichtbare Mauer stand, vergessen werden.
In Indien ist Wahlkampf, und die plötzliche Euphorie des „Bhai-bhai“ („Brüderschaft“) färbt inzwischen auch die Politikerreden. Vor allem die regierende BJP nutzt die Gunst der Stunde und preist Premierminister Atal Behari Vajpayee als herausragenden Skipper, der sein „Team India“ sportlich fair zum Sieg führt ohne den Angstgegner in die Ecke zu treiben.
Pakistans Machthaber Pervez Musharraf versucht, den Hass einheimischer Radikaler ob seiner Afghanistan- und Kaschmirpolitik mit Kricket-Diplomatie zu neutralisieren. Sein politischer Spielraum ist allerdings klein. Zur Besänftigung der großen Kaschmir-Befreiungslobby forderte er kürzlich eine Lösung dieses „Kernkonflikts“ gleich für den Herbst ein. Das wurde in Indien trotz Wahlfieber gutmütig aufgenommen. Aber es erinnerte die Öffentlichkeit daran, dass sie in der Euphorie des Besucheraustauschs ganz vergessen hatte, dass die eigentlichen Friedensverhandlungen noch nicht begonnen haben. Kricket sorgt nun dafür, dass der Druck für eine pragmatische Lösung enorm gewachsen ist. BERNARD IMHASLY