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Archiv-Artikel

Die russische Variante

Virtuos im Fluss der Geschichten: Felicitas Hoppe bringt in ihrem neuen Roman „Paradiese, Übersee“ mit Absicht alles durcheinander

„Am Vorabend des zweiundzwanzigsten Zwölften betraten der Ritter und der Pauschalist das Festland von der Nordseite her.“ Es ist ein einfacher, ein guter Satz, mit dem „Paradiese, Übersee“ beginnt, der zweite Roman Felicitas Hoppes. Er drängt zum Weiterlesen und legt ganz nebenbei eine erste kleine Falle unter der Textoberfläche aus.

Denn es ist ein paradoxes Duo, das sich ein paar Absätze später am Bahnhof von Kalkutta zwischen „gepeinigten Händlern und Flüchtlingen“ wiederfindet. Hier der „Pauschalist“ genannte freie Journalist, ausgestattet mit Diktiergerät und dem Glauben, „nichts sei ihm fremd“, da der entrückte Rittersmann, in die Rüstung gehauen, als wär’s eine Gestalt von Wolfram von Eschenbach. Begleitet vom sprechenden Hund Munter sind sie unterwegs, ziehen durch Dschungel und Wüsten, über Wasser und Ebenen, geraten in Unwetter und unter die Räuber. Der Pauschalist auf der Suche nach dem Forscher Doktor Stoliczka und dem Fell eines Fabeltieres namens Berbiolette, der Ritter, weil er eben Ritter ist und „alles in allem Pfadfinder bleiben will“. Allerdings ist das Paar für seine Mission nur unzureichend ausgerüstet. Als einzige konkrete Fahndungshilfe besitzt der Pauschalist das Foto zweier Männer, „von denen der eine wie der andere Dr. Stoliczka hätte sein können“. Der Ritter schwitzt unterm Eisenhemd und verbirgt dort einen Brief, dessen Inhalt vieles erklären könnte. Aber er mag ihn nicht öffnen.

Leser, die an dieser Stelle immer noch glauben, „Paradiese, Übersee“ verhandele eine klassische Ritter- und Abenteuergeschichte, werden sich umgucken! Unmerklich beginnt Hoppe Personal, Kulissen und Zeitebenen zu verrücken. Und zwar derart sinister und virtuos, dass einem schwindelig werden kann. Doch anders als geistesverwandte Kollegen wie Ror Wolf oder Urs Widmer, die dem, was wir gemeinhin Wirklichkeit nennen, über das Zerstäuben von Form und Erzählklischees zu Leibe rücken, wählt Hoppe eher die russische Variante. Ihre wunderbare elastische Prosa hält den Fluss der Geschichte mühelos in Gang, während das theatralische, bisweilen märchenhafte Setting von Plot und Figuren Spielräume für komische Volten und melancholische Irr- und Umwege schafft, die sich in der Gesamtheit zu einem funkelnden Meisterwerk über das Reisen, über Freundschaft und Liebe und über das Erzählen formen.

Dass nämlich nur das Fabulieren unseren Zeitläuften beikommt, lernen die beiden Abenteurer am Ende in den Ardennen, zwischen Troisvierges, Knoposcheid und Wilwerwilz, wo die Schwester des Pauschalisten eine Schürze aus Berbiolettenfell trägt und sich alle Rätsel lösen. Dafür sorgt sein Bruder, der kleine Baedeker, seines Zeichens Kastellologe, Fremdenführer und Amateurphilosoph. Er weiß, dass die Geschichte „aus nichts als lauter Geschichten besteht“ und dass nur in ihnen „nichts wirklich in Vergessenheit geraten kann“. Deshalb erscheinen ihm Heiligenlegenden, Heldensagen und Erzählungen wirklicher als die Realität und das Zuhausebleiben dem Welteroberer angemessen. Getreu dem Motto, das schon Georg Weerth seinem „Ritter Schnapphahnski“ in den Mund gelegt hat: „Man reist nicht billiger und schneller als in Gedanken.“ MICHAEL QUASTHOFF

Felicitas Hoppe: „Paradiese, Übersee“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2003, 185 Seiten, 16,90 €