: „Meine Heimat könnte Fiktion werden“
Das Klima der Ambiguität in einem Land, das sich traditionell als Opfer der Geschichte sieht: Ein Gespräch mit dem im amerikanischen Exil lebenden rumänischen Schriftsteller Norman Manea über den Holocaust, den Kommunismus und die unbewältigte Vergangenheit in seiner Heimat Rumänien
VON WILLIAM TOTOK
taz: Herr Manea, Ihr autobiografisch eingefärbtes Buch, „Die Rückkehr des Hooligan“ wurde in Deutschland äußerst positiv aufgenommen. Weniger enthusiastisch reagierte hingegen die Kritik in Ihrer rumänischen Heimat. Wie erklären Sie sich diese auffallende Zurückhaltung Ihrer ehemaligen Landsleute?
Norman Manea: Das Problem des Holocaust provoziert in Rumänien nach wie vor Irritationen. Das Kulturestablishment und auch die Öffentlichkeit sind nicht gewillt, die in der Vergangenheit begangenen Fehler sachlich aufzuarbeiten. Dazu kommt ein gewisses Informationsdefizit, wenn es um die Zeitspanne der faschistischen Antonescu-Diktatur geht. Die Vorfälle aus dieser Epoche wurden in der Frühphase des Kommunismus verkürzt dargestellt, sodass niemand an deren Wahrheitsgehalt glaubte. Der rumänische Kommunismus verwandelte sich später in einen zwitterhaften nationalistischen Kommunismus.
Nach 1989, als sich innerhalb weniger Tage plötzlich alle in Antikommunisten und in Opfer des untergegangenen Systems verwandelten, war an eine Debatte über die Vergangenheit nicht zu denken. Eine Diskussion über die Frage, wie sich eine aus 1.000 Mitgliedern bestehende Partei in eine Massenpartei von über 4 Millionen Mitgliedern verwandeln konnte, in der es keine 1.000 richtigen Kommunisten mehr gab, blieb aus.
Das Thema faschistischer Nationalismus sowie die damit eng verknüpfte Verfolgung der Juden vor und während des Krieges wurden ausgeblendet. Von einer freien und objektiven Debatte kann somit nicht gesprochen werden. Das Thema ist halb tabuisiert und irritierend und soll so weit wie möglich vermieden werden.
Inwiefern spiegelte sich dieser Sachverhalt in den in Rumänien erschienenen Besprechungen Ihres Buches, in dem Sie Ihre Erfahrungen während des Holocaust, des Kommunismus und im Exil beschreiben?
In den Besprechungen zu meinem Buch, das kein Geschichtsbuch, sondern ein literarisches ist, konzentrierte man sich eher auf die anderen von mir angeschnittenen Themen. Meinen traumatischen Erfahrungen im Lager – die ich in meinem Buch als „Initiation“ bezeichne – habe ich keinen besonders breiten Raum gewidmet. Ich setzte auf die Vorkenntnisse des Lesers, auf eine Art Komplizenschaft bezüglich des Wissens um den Holocaust. Nur will der rumänische Leser einfach nicht wissen, was geschehen ist. In Rumänien bestehen die alten Tabus, und es herrscht wie immer ein undurchdringliches Klima der Ambiguität. Jede offene, konkrete und klärende Diskussion verläuft sich in Vereinfachungen, weil die intellektuelle Elite am liebsten in rhetorischen Subtilitäten schwelgt. Diese Elite meint, die Ambiguität sei ein Markenzeichen des Intellektuellen.
Wie erklären Sie sich, dass die meisten rumänischen Intellektuellen den rechtsextremen Totalitarismus bloß auf die Kohabitation Antonescus mit seinen faschistischen Bündnispartnern aus der so genannten Legion des Erzengels Michael, die von September 1940 bis Januar 1941 währte, reduzieren? Wieso wird die bis 1944 währende Diktatur Antonescus, der für die Ermordung der Juden und Roma verantwortlich ist, häufig verniedlicht?
Es handelt sich um eine traditionelle rumänische Falschdarstellung. Sie beruht auf unhaltbaren Schuldzuweisungen. An allem, was geschehen ist, sind immer nur Fremde schuld. Fremde haben uns den Kommunismus aufgezwungen, wir hingegen waren immer Opfer der Geschichte. Gewiss enthält diese Ansicht auch ein Tröpfchen Wahrheit. Aber es handelt sich um eine manipulierte und an eine gewisse Konjunktur angepasste Wahrheit. Wer nicht die Kontinuitäten zwischen der totalitären Vor- und Kriegsrealität und dem nach 1945 erklärterweise links agierenden Totalitarismus bemerkt, ist völlig blind. Der totalitäre Pulsschlag der rumänischen Kultur, Literatur und Politik verstummte niemals ganz. Nicht zufällig verwandelte sich der Kommunismus unter Ceaușescu in einen Nationalkommunismus. Nur eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser nationalistischen Tradition führt zur Genesung der Bevölkerung.
Und wie sah das nach Wende von 1989 aus?
Damals wurden wichtige Figuren des Widerstands zu nationalistischen Vorkämpfern – nicht zu demokratischen! – hochstilisiert. Zwielichtige Antikommunisten erhielten den Glorienschein nationalistischer Helden. Dabei gibt es in der rumänischen Kultur durchaus einige – wenn auch wenige – Demokraten. Diese stellt man jedoch in den Schatten und überlässt den Nationalisten den hell erleuchteten Ehrenplatz. Die stockende Bewältigung des Kommunismus ist auch auf dessen totalitäre Wurzeln im Denken der rumänischen Rechten zurückzuführen.
Die Entwicklung der rumänischen Ideologie und Kultur war nie links-, sondern immer rechtsgerichtet. Die politische Landschaft war immer von den Rechten, mitunter auch von der extremen Rechten, dominiert. Die Rechte spielte immer schon eine wichtigere Rolle als die schüchterne Linke. Das sieht man auch heute an den Versuchen, die Revolution von 1848 lächerlich zu machen. Auch die der Französischen Revolution gewidmeten Debatten sind voller sarkastischer und ironischer Bemerkungen. Dies geschieht, ohne zu bedenken, dass die Menschen- und Freiheitsrechte ein Ergebnis dieser Revolution sind.
In der rumänischen Presse erscheinen nach wie vor Aufsätze, in denen allen Ernstes Szenarien einer jüdischen Weltverschwörung entworfen werden und in denen die Juden als Drahtzieher der neuen Weltordnung gelten. Was halten Sie von diesen Meinungen?
Sie dienen einerseits der Dämonisierung, andererseits der Potenzierung des Selbstbewusstseins und der Entschuldigung des belasteten Nationalbewusstseins. Ohne eine Entschlackung der öffentlichen Debatte wird es in Rumänien auch keine reellen Verbesserungen geben. Ich gehe sogar so weit und verknüpfe die grassierende Korruption mit derartigen korrumpierenden Debatten. Sie offenbaren überdies deren tiefere Ursprünge.
Auf Ihre Aussage, der Holocaust sei als ein Klischee ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen, reagierten einige Zuhörer bei Ihrer Lesung aus „Die Rückkehr des Hooligan“ im Berliner Literaturhaus sichtlich befremdet.
Ich sagte, die Tragödie dringt nur dann als Klischee ins öffentliche Bewusstsein, wenn sie auch als Klischee agiert. In diesem Zusammenhang nannte ich als Beispiel den Holocaust. Ein Mensch, der nicht die Erfahrung des Holocaust gemacht hat, behält die zum Klischee geschrumpfte Tragödie. Ein Klischee muss nicht unbedingt eine Lüge sein, aber es ist eine Vereinfachung. Ich versuchte in meinem Buch, ein individuelles Schicksal darzustellen und es dem Sog des kollektiven Schicksals zu entziehen. Wir, als Einzelne, als Individuen, sind immer ein Stückchen mehr als nur ein Teil einer kollektiven Tragödie, die wir im Nazismus, Kommunismus oder vielleicht auch im Exil erlebten. Innerhalb einer kollektiven Katastrophe führt die Nichtbeachtung des individuellen Schicksals zu dessen totaler Vermassung.
In einem Essay deckten Sie die faschistischen Verstrickungen des bekannten rumänischen Religionshistorikers Mircea Eliade auf. In Rumänien löste dieser Essay eine Flut von entrüsteten Angriffen aus. Was halten Sie von den Kritiken des französischen Strukturalisten Daniel Dubuisson, der Ihnen vorwirft, Sie hätten sich auf die Darstellung der faschistischen Publizistik Eliades beschränkt und nicht eine gewisse Kontinuität dieser Ideologie in seinem im Westen entstandenen Nachkriegswerk aufgezeigt?
Seine Einwände sind begründet. Ich wollte nicht die Verbindung zwischen der Publizistik Eliades und seinen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten untersuchen, weil mich ein solches Vorgehen allzu sehr an die gängige Ideologisierung in der Zeit des Kommunismus erinnerte. Als ich meinen Text schrieb, war die Erinnerung an den Kommunismus in mir noch lebendig. Deshalb kann mein Text auch zu Recht als zurückhaltend eingestuft werden. Außerdem handelte es sich um einen journalistischen Text und nicht um eine Studie. Es war eine Rezension der Memoiren und des Tagebuchs von Eliade, in der ich an einige Dinge erinnern wollte, die er verschwiegen hatte.
Sie leben nun seit fast 20 Jahren im amerikanischen Exil. Welche Auswirkungen hat die räumliche und politische Distanz zu Ihrem Land auf Sie als Schriftsteller, und was bedeutet für Sie der Verlust des unmittelbaren Kontakts zu Ihrer Muttersprache?
Ja, das Land hat sich entfernt und gleichzeitig hat es mich auch ausgeschlossen. Das ergibt einen Doppeleffekt, einen geografischen und einen historischen. Nicht zu vergessen die Feindschaft, die mir dort mitunter entgegenschlug. Darauf geht auch meine anfängliche Weigerung zurück, 1997 Rumänien wieder zu besuchen, was ich in meinem Buch beschreibe. Die Entfernung des Landes hat aber auch eine heilende Wirkung. Meine kritische Haltung dem Land gegenüber empfinde ich letztendlich als eine patriotische, als die eines Menschen, der nach wie vor an dem verlassenen Ort hängt. Je weiter sich aber das Land entfernt, umso stärker wächst auch ein gewisses Gefühl von Gleichgültigkeit. Das in der Ferne liegende Land entschwindet nach und nach in meiner Vorstellung und könnte eines Tages vielleicht selbst zur Fiktion werden. Ich weiß, dass ich dort geboren wurde, und weiß, dass Rumänisch bis an mein Lebensende meine Sprache bleiben wird.