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Archiv-Artikel

Aufstand für die Unbestechlichen

AUS SEOUL GEORG BLUME

Lee Youn Taek ist ein feinsinniger Heiner-Müller-Fan. Vielleicht war der südkoreanische Regisseur darum damals vor sieben Jahren einer der wenigen fröhlichen Menschen von Seoul. Die Asienkrise tobte, das staatlich bankrotte Land wurde vom internationalen Währungsfonds verwaltet, und nur ein Avandgardist konnte sich am Verlust der südkoreanischen Siegermentalität erfreuen: Lee Youn Taek, der Anführer der so genannten Theaterguerilla.

Drei Jahre später, zur Jahrtausendwende, hatte sich Lee etabliert. Seine unkonventionelle Theatertruppe behauste nun ein altes Schulgebäude und spielte auf den besten Bühnen, derweil Friedensnobelpreisträger Kim Dae Jung ein Land regierte, das sich langsam von der Wirtschaftskrise erholte. Und wo inszeniert der Bühnenrevolutionär heute? „Ich hatte keine Wahl. Das Nationaltheater lag in Trümmern. Die Schauspieler forderten eine systematische Veränderung. Da haben sie mich geholt“, sagt Lee, aufgeknöpftes blaues Seidenhemd, die bloßen Füße in schwarzen Lederschuhen, im grauen Direktorensessel von Koreas ältestem und traditionsreichstem Theater. Seit zwei Monaten bekleidet er das Amt des künstlerischen Leiters am Nationaltheater. Ausgerechnet Lee, der alte Chef der Guerillaszene.

Radikale Auflehnung, mühsamer Freiheitskampf und plötzlicher Machtgewinn – es gibt so manche Parallele im Lebenslauf von Lee Youn Taek und seinem Präsidenten Roh Moo Hyun. So wie Lee radikale Aufklärung verlangt, setzt Roh am heutigen Wahltag auf ein radikales Votum des Volkes. Denn die Wähler sollen ihn, den Präsidenten, retten. Zwar plagt ihn derzeit ein Amtsenthebungsverfahren, doch das hat ihn nicht seines Saubermannimages beraubt. Im Gegenteil: Schon sieht es so aus, als könnte Südkoreas junge Wählerschaft, die so genannte Internetgeneration des Landes, ihm heute alle Wünsche erfüllen: die absolute Mehrheit.

Lee lehnt sich tief in den Direktorensessel. So schnell soll auch ihn niemand hier vertreiben. 54 Jahre ist diese stolze Bühne alt. Sie erlebte in den demokratischen Fünfzigerjahren die erste Annäherung Südkoreas an den Westen. Ibsen-Stücke prägten das Repertoire. Doch während der Diktatur versteinerte ihr Programm in koreanischer Klassik. Auch die Demokratisierung nach der von Studenten und Arbeitern entfachten „Juni-Revolution“ von 1987 brachte keinen neuen Schwung. „Die Aufklärung war nur nachgeahmt. Sie drang nicht in die Körper ein“, bilanziert Lee. Und diese Diagnose gelte für das ganze Land. Auch die Demokratie wurde lange nur nachgeahmt. Im Parlament regierten weiter die Parteien der Diktatur.

Am Theater will Lee diesen Fehler vermeiden. Schon müssen alle Schauspieler morgens Englisch- und Philosophieunterricht nehmen. „Die Schauspieler verstehen sich nicht als Intellektuelle. Das muss sich ändern“, befiehlt der einstige Theaterguerillero. Dann streicht er sich über das lange, leicht ergraute Haar. Auf dem Schreibtisch steht ein Selbstporträt: Lee meditiert auf einer grünen Wiese. Davor liegt ein Deutschlehrbuch für Anfänger.

Einst belächelter Außenseiter

Auch Präsident Roh war noch vor wenigen Jahren belächelter Außenseiter in einer auf wirtschaftlichen Erfolg getrimmten Gesellschaft, in der diktatorisch geprägte Parteien und von Konzernen korrumpierte Kandidaten den Ton angaben. Noch während der Asienkrise verdingte sich Roh als Gastwirt.

Sein Freund Yoo In Tae, der heute in einem Arbeitervorort von Seoul für die dem Präsidenten nahe stehende Uri-Partei kandidiert, erinnert an diese Zeit: „Wir teilten uns die Tage im Restaurant ein, an denen wir die Kundschaft bewirteten. Jedes Mal kamen wir nachts betrunken nach Hause.“ Ihre Gaststätte nannten Roh und Yoo „Haro dongseon“, frei übersetzt: „Ein Fächer im Winter“. So nutzlos wie ein Fächer im Winter erschien den politischen Freunden auch das Wirtshausgeschäft. Doch besagt ein koreanisches Sprichwort, dass man den Fächer im Winter nicht verbrennen soll. Der nächste Sommer komme bestimmt. Das bewahrheitete sich auch in Rohs und Yoos politischen Leben.

Beide waren einst Dissidenten der ersten Stunde. Bereits in den Siebzigerjahren wurde Yoo als Führer des „Nationaldemokratischen Jugendvereins“ zum Tode verurteilt, kam aber mit einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren davon. Derweil machte sich der junge Rechtsanwalt Roh einen Namen als Verteidiger für politisch Verfolgte. Beide engagierten sich lange Zeit auf Seiten von Kim Dae Jung, bis dieser 1996 seine eigene liberale Partei (MDP) gründete und die Freunde ausstiegen. Sie warfen Kim Selbstherrlichkeit und mangelnde innerparteiliche Demokratie vor. Das bewahrte sie vor dem Skandalsumpf, der sich später um Kims Präsidentschaft (1998–2003) auftat. Und als die MDP dann einen Nachfolgekandidaten für die Präsidentschaftswahlen im Dezember 2002 suchte, der sich vom korrupten Image Kims absetzte, war Roh zur Stelle – und gewann.

Sein Freund Yoo hat zwölf Monate als Leiter des Büros für politischen Angelegenheiten im Blauen Haus, dem Amtssitz Rohs, verbracht. Eine turbulente Zeit, in der Roh bereits mehrmals an Rücktritt dachte. Einmal kam der Präsident frustriert von einer Washingtonreise zurück. Ein anderes Mal hatten Konzerne auch seine Mitarbeiter bestochen. Dann trennte sich Roh von der MDP und rief mit Uri eine neue Partei ins Leben, der nur 49 von 299 Abgeordneten folgten. Jedes Mal musste Yoo den zögernden Freund zum Durchhalten bewegen.

Indes verlor der Präsident rasch an Popularität und handelte sich im März das derzeit beim Verfassungsgericht anhängige Amtsenthebungsverfahren gegen ihn ein. MDP und die größte Oppositionspartei, die extrem konservative Große Nationalpartei (GNP), warfen Roh die Verletzung der Neutralitätspflicht und Unfähigkeit vor.

Doch Yoo verteidigt seinen Präsidenten: „Man bezeichnet Roh als linksradikal, aber das ist er nicht“, sagt der Weggefährte, während in seinem Wahlkampfquartier im Haus eines Malerbetriebs die Lokalhonoratioren Schlange stehen. „Er ist nur ein radikaler Gegner des alten politischen Systems.“

Kerzen für den Präsidenten

Genau das aber droht bei den Wahlen heute einzustürzen. Erschien die Abstimmung über das Amtsenthebungsverfahren im Parlament vor fünf Wochen zunächst als ein Sieg der Altparteien, glichen die Reaktionen darauf einem Volksaufstand. Plötzlich demonstrierten bis zu 200.000 Menschen über drei Wochen lang täglich gegen die Amtsenthebung Rohs – und beschuldigten die Altparteien eines Staatsstreichs.

„Eigentlich wollte ich nicht hingehen“, sagt Eunha Huang, eine junge Büroarbeiterin. Auf dem Kwanghwamun-Platz in Seoul, wo sich die Demonstranten jeden Abend trafen, hatte sich Huang schon während der Massenfeiern zur Fußball-WM vor zwei Jahren unwohl gefühlt. Auch ist die junge Frau im flotten Business-Dress keine Anhängerin des Präsidenten, und auch politisch war sie nie engagiert. Statt Zeitungen liest sie im Internet. Dann aber ging sie trotzdem demonstrieren: „Es waren viele Eltern mit Kindern und Kerzen dabei. Nicht nur Studenten. Alle saßen ordentlich auf dem Asphalt. Niemand marschierte. Es gab keine Parteislogans, alles war von Bürgerbewegungen selbst organisiert“, erzählt sie noch immer beeindruckt. Kerzenlichter haben nun ihre alte Vorstellung von der Militanz südkoreanischer Demonstranten ersetzt.

Choi Yul, Seouls bekanntester Umweltaktivist, war der Organisator der Proteste. „Wir stehen nicht hinter dem Präsidenten. Er hat zum Teil miserable Politik gemacht“, sagt der Vorsitzende des Dachverbands der Koreanischen Umweltbewegung (KFEM), der stärksten Nichtregierungsorganisation des Landes. In Chois Büro hängen deutsche Umweltschutzplakate, seine Organisation bekommt Gelder von Weltkonzernen wie Samsung. Doch als Choi vor 28 Jahren den ersten Umweltverband seines Landes gründete, wanderte auch er für fünf Jahre ins Gefängnis.

Jetzt wurde der nimmermüde Campaigner erneut verhaftet: Demonstrationen sind nach Einbruch der Dunkelheit verboten. So will es ein Gesetz aus den Zeiten der Diktatur. Choi aber hatte auf Kerzenlichtdemos bestanden, die eben nur im Dunkeln Sinn machen. Seinem illegalen Aufruf waren 950 Organisationen im ganzen Land gefolgt. „Die Polizei sollte uns schützen, statt uns festzunehmen“, empört sich Choi. Doch sein feiner blauer Anzug und das geräumige Büro im Regierungsviertel verraten, dass auch er nicht mehr zu den Außenseitern zählt. Vielleicht war Choi in den letzten Wochen sogar der wichtigste Verbündete des Präsidenten, auch wenn er das selbst nie zugeben würde.

So sind es heute die Unbestechlichen der Junirevolution, Typen wie Choi, Yoo und Lee, die sich mit Unterstützung einer neuen Wählergeneration à la Huang anschicken, die Wahl für ihren aller Machtbefugnisse beraubten Präsidenten zu gewinnen. 47 Prozent aller registrierten Wähler sind nicht älter als 40 Jahre. Auf sie kann Roh heute vertrauen. Zwar haben die alten Oppositionsparteien in den letzten Umfragen wieder aufgeholt. Doch gilt der Gewinn einer absoluten Mehrheit für die Uri-Partei weiterhin als wahrscheinlich.

„Unser Präsident ist ein Abenteurer, der den Sturm der Gesellschaft entfacht hat“, sagt Lee Youn Taek, der das Treiben auf der politischen Bühne mit dem Auge des Regisseurs betrachtet. Er kann das nur begrüßen: „Der Sturm kommt aus der Urne. Das spricht für eine gute Zukunft.“ Das wird wohl auch das Verfassungsgericht einsehen und Roh, unabhängig von den Wahlergebnissen, demnächst im Amt bestätigen.