: Wie ein Detektiv nach Büchern suchen
In Deutschlands Bibliotheken stehen rund eine Million Bücher, die im „Dritten Reich“ geraubt wurden. Die meisten davon sind nicht identifiziert. Auch Hamburgs Universitäts- und Staatsbibliothek hat keinen hauptamtlichen Provenienzforscher. Aber sie dokumentiert nun, wie mühsam die Recherche ist
VON PETRA SCHELLEN
Wer Provenienzforschung betreiben will, muss geduldig sein. Detektivisch muss vorgehen, wer herausfinden will, ob Kunstwerke oder Bücher einst ihren jüdischen Eigentümern geraubt wurden. Und ob ein Museum, die Bibliothek diese Schätze also zu Recht besitzt. Bei hochkarätigen Ölgemälden wird um die Rückgabe immer wieder auch öffentlich gestritten – gestritten, weil die Restitution an die Erben große finanzielle Belastungen für die betroffenen Museen mit sich bringen kann. Das ist beim Großteil der von Nazis geraubten Bücher nicht der Fall: Meist handelt es sich dabei um recht unspektakuläre Bestände, nur selten von Wert.
Zunächst im ganzen Deutschen Reich, später auch in den besetzten Gebieten stahl das nationalsozialistische Regime aber Bücher aus jüdischem Besitz, um damit etwa das Reichshauptamt zu beliefern, Reichsleiter Alfred Rosenberg oder weitere Nazi-Größen. Diente das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auch dem Aufbau von Bibliotheken, ging es später darum, zerstörte Bestände zu ersetzen.
Die angelieferten Bücher wurden in den Zugangsbüchern der Bibliotheken unter Stichworten wie „Geschenk der Gestapo“ verzeichnet. Manchmal, wie in den Bremer Zugangsbüchern, die der Politologe Klaus von Münchhausen ab 1991 durchforstete, steht da „J. A.“ – Juden-Auktion. Dort wurde versteigert, was zuvor jüdischen Emigranten abgenommen worden war.
Wenn solch deutliche Beschriftung in den Zugangsbüchern die einzigen Hinweise auf Raubgut böte, hätten es die Forscher leicht mit Recherche und Rückgabe. Dass es anders ist, davon erzählt die Ausstellung „Geraubte Bücher“ in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Viele Raubbücher wurden schlicht als „Überweisung“ oder „alter Bestand“ eingetragen. Das macht die Spurensuche schwer. „Außerdem haben Bibliotheken bundesweit sowohl während des Dritten Reichs als auch danach kontinuierlich Bücher ausgetauscht“, sagt Bibliothekarin Maria Kesting, die die Hamburger Ausstellung betreut, „sodass Raubgut inzwischen auf die ganze Republik verteilt ist.“
Schätzungen zufolge lagern eine Million geraubter Bücher in Deutschlands Bibliotheken. Sie kamen ab 1933 teils direkt, teils auf Umwegen dorthin und sind immer noch nicht gänzlich in die Kataloge eingearbeitet. Obwohl die Bundesrepublik 1998 die „Washingtoner Erklärung“ unterschrieb, der zufolge Raubgut aufgefunden und restituiert werden soll, krankt die Provenienzforschung in Museen und Bibliotheken an Personalmangel. Zwar hat die Hamburger Kunsthalle eine hauptamtliche Provenienzforscherin, wie auch die Gottfried Wilhelm Leibniz-Bibliothek in Hannover.
In der Hamburger Universitätsbibliothek dagegen müssen solche Recherchen „nebenbei“ erledigt werden. So veröffentlichte 2002 der Bibliothekar Otto-Ernst Krawehl den Aufsatz „Erwerbungen der Bibliothek der Hansestadt Hamburg aus ehemals jüdischem Besitz von 1940 bis 1944“. Die aktuelle Ausstellung speist sich unter anderem aus den Forschungen einer Diplomandin, die weiter ins Detail ging. Das war nicht leicht, denn von den 5.000 Titeln in den Zugangsbüchern fanden sich nur 1.100 überhaupt auch wirklich im Depot. 430 davon waren tatsächlich die während des „Dritten Reichs“ angelieferten Exemplare. 125 von diesen trugen einen Besitzervermerk, der weitere Nachforschungen erlaubt.
Einige dieser Bände haben die Hamburger Bibliothekare herausgegriffen. Exemplarisch schlüsselt die Ausstellung etwa das Leben der 1942 in Auschwitz ermordeten Maria May Reiss auf. Die Rekonstruktion war unproblematisch: Ihr Neffe hatte eine Suchanzeige in die Datenbank der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eingegeben. Tragisches über Reiss’ Vita kam heraus – etwa, dass die Familie eigentlich nach Südamerika auswandern wollte. Aber man konnte sich nicht entschließen, zögerte, bis es zu spät war. Einige Familienmitglieder starben in Auschwitz, andere in Theresienstadt.
Geblieben sind die unspektakulären Bücher von ideellem Wert. Der Neffe wollte sie gar nicht wiederhaben. „Er war der Meinung, dass sie hier, als Mahnung für die Nachwelt, besser aufgehoben wären“, sagt Kesting. In der Tat bemüht sich die Bibliothek um Redlichkeit: Der Katalog weist jedes als Raubgut identifizierte Buch aus.
Schwieriger gestaltet sich die Recherche, wenn ein Buch keinen Namen eines früheren Besitzers trägt und auch nicht unter www.lostart.de geführt wird, der offiziellen deutschen Datenbank zur Raub- und Beutekunst. „In welche Richtung soll man recherchieren, wenn man bloß Initialen oder zum Beispiel den Vornamen Nelly findet?“, fragt Kesting. „In solchen Fällen wenden wir uns meist ans Staatsarchiv.“ Von 1937 an waren die Finanzämter befugt, potenziell auswanderungswilligen Juden Sicherungsanordnungen aufzuerlegen, um die „Verschiebung“ von Vermögen zu verhindern. Konkret mussten bestimmte Geldbeträge auf gesperrte Konten eingezahlt werden. Die Höhe des verbleibenden Betrags, über den die Menschen verfügen konnten, legten auch die Finanzämter fest. Wer zusätzlich Geld brauchte, musste dort vorsprechen. „Hier finden sich oft Details über die finanziellen Verhältnisse jüdischer Familien, manchmal auch über Buchbestände, die uns weiterhelfen“, sagt Kesting.
Eine mühevolle Arbeit, mit der man sich überdies nicht immer beliebt macht: Der Göttinger Referendar Arno Barnert etwa bekam, als er 2007 auf Spurensuche gehen wollte, massive Schwierigkeiten – weil er den Dienstweg nicht eingehalten habe. Zudem soll ihm nahegelegt worden sein, seine Abschlussarbeit besser nicht über das Nazi-Raubgut zu schreiben.
Sich der Erforschung zu verschließen, wäre im Falle der Bibliotheken absurd, denn es geht hierbei selten um finanzielle Werte. Sondern um ideelle – und darum, Angehörigen eventuell einzige Erinnerungsstücke an ermordete Verwandte zurückzugeben. Darum, ehrlich über die Wege zu informieren, auf denen Bücher in die Bestände gelangten. Und zu dokumentieren, wie weit die NS-Enteignungspolitik bis heute in Gesellschaft und Institutionen hereinreicht.
„Geraubte Bücher – NS-Raubgut in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg“: bis 1. 2. 2009, ebendort