Ritt durch die Alkoholfolter
Schwere Fälle: Mit „Ganz und gar“ von Marco Kreuzpaintner und „Sophiiiie!“ von Michael Hofmann versucht sich deutsches Kino an einem krassen Film-Naturalismus voller rückwärtsgewandter Moral
Frausein ergibt sich aus der Kombination von lauter harten Zuschreibungen
von MANFRED HERMES
Das Ende der Jugend kommt hart. Gerade hat man noch die Handflächen zum High-five zusammengeklatscht, die Faust in die Luft geboxt und ein „Jjjahh!“ herausgepresst, da fangen die ersten der Gruppe auch schon mit dem Heiraten an oder wollen es beruflich zu etwas bringen. Nicht aber Torge, der Protagonist von Marco Kreuzpaintners Debüt „Ganz und gar“. Er ist der wildeste, schönste und wagemutigste von allen, und Mädchen zu kriegen ist für ihn sowieso kein Problem. Die Mädchen, das sind Lisa, Alex und Geli, deren Hobby Wasserballett ist. Torge ist Zimmermann, und eines Tages fällt er bei der Arbeit vom Dach. Nun ist die Zeit der Eitelkeit vorbei, solle man meinen, denn Torges Bein wird amputiert. Aber der Mann ist ein schwerer Fall. Selbst der Verlust legt den Sumpf seines Narzissmus nicht trocken. Zuerst kehrt er die Fragen nach Geld, Zukunft und Invalidität unter den Teppich. Dann wettet er schon wieder munter mit Micha, er würde Lisa, die Micha damals verlassen hat, schon dazu bringen, ihn, Torge, zu heiraten, auch als Behinderten. Lisa ist Besitzerin eines Ladens für Brautmoden und sie steht dieser Mischung aus Charme und Hilflosigkeit tatsächlich ziemlich hilflos gegenüber.
Wenn in diesem Stoff ein netter Film über die Konflikte des Erwachsenwerdens enthalten war, so stand seiner Entfaltung eine Menge im Weg. Zu allererst die Darsteller selbst, die wirken, als seien sie aus dem Katalog einer Modelagentur in diese kleinbürgerlichen Posen von Zimmermann und Ladenmädchen abkommandiert worden. Auf regionale oder soziale Besonderheiten wurde jedenfalls verzichtet, ein TV-gemäßer Standard von Jugendlichkeit war die einzig zwingende Vorgabe. Was aber wirklich befremdlich ist: Inzwischen müssen schon wichtige Körperteile kastriert werden, um die Vorgaben an Dringlichkeit zu erfüllen, die das deutsche Kino sich selbst stellt.
Das ist in „Sophiiiie!“ von Michael Hofmann kaum anders. Hinter dem ausdrucksstarken Titel steckt ein „Dogma“-artiger Film über eine junge Frau mit Problemen. Der Tag neigt sich seinem Ende zu, eine Gereiztheit macht sich breit. Der Freund nervt, sie leiht sein Motorrad und überquert darauf eine Kreuzung mit geschlossenen Augen. Vielleicht bringt die Bikerbar an der nächsten Ecke jenen Kick, auf den sie es so sehr abgesehen hat. Ihr Kollisionskurs hat dort mehr Erfolg, die Männer sind sauer und der öffentlichen Vergewaltigung entgeht sie nur knapp. In diesem Stil geht es weiter durch eine tiefschwarze Hamburger Nacht, in Taxis, mit Fremden, durch Animierlokale und Rinnsteine, vorbei an Erniedrigungen, Sex für Geld oder ohne. In einem Programmkino lernt sie Robert Stadlober kennen, der sie als schüchterner Kuschler auch nicht gerade fordert.
Jeder Film ist auch das Resultat einer Kombinatorik. In diesem werden vor allem die harten Zuschreibungen kombiniert, die das deutsche Kino der letzten Jahre nicht müde wird, fürs Frausein zu liefern. Frauen sind jetzt barsch, sagen „ich will mit dir ficken“, sind aber auch verletzlich und mitunter verzweifelt. Schwer zu sagen, wo hier das brave Motivieren der Figuren endet und die Männerphantasien beginnen. Katharina Schüttler bedient diese Idee vom tough cookie zumindest ganz gut und sieht in ihrem Sommerkleidchen sogar ein bisschen sexy aus. Das Suhlen im Suizidalen, im körperlichen Niedergang und in „schonungsloser“ Krassheit treibt aber auch auf eine fragwürdige Pointe zu.
Sophie ist nämlich schwanger und am nächsten Tag steht der Termin für die Abtreibung an. Spätestens dann sollte sie sich entschieden haben. So löst sich auch der Knoten des Films, denn sein Ritt durch Alkoholfolter und Sexdrastik hatte ja eine psychologische Seite. Am nächsten Morgen stolpert Sophie, auf der Höhe ihrer Zerrissenheit, über den Jungfernstieg – vor sich den blutigen Fötus in Händen.
Der Körper und seine Biologie als Letztbegründung von Handlungen, Mutterschaft als starke dramatische Macht – schlimmer kann man Frauen wohl nicht festnageln. (Und was wird eigentlich aus der Schönheit sinnloser Sauferei?) Das alles bleibt nicht ohne Wirkung auf den Film. Machte die um die Personen herumwackelnde Kamera zunächst einen eher beflissenen Eindruck, so wird deren Film-Naturalismus gerade nach der moralistischen Wende eigentlich inakzeptabel. Ein glasiges Funkeln, brüchige Choreografien und Rhythmik, wie sie ostasiatische Filme manchmal mit den gleichen technischen Mitteln entfalten, hatte Hofmann ohnehin an keiner Stelle im Sinn. Was hier zählt ist Blut und Boden als krasses Gestaltungsmittel privatistischer Höllen.
„Ganz und gar“. Regie: Marco Kreuzpaintner. Mit David Rott, Mira Bartuscheck u. a. Deutschland 2002, 93 Min.„Sophiiiie!“. Regie: Michael Hofmann. Mit Katharina Schüttler, Robert Stadlober u. a. Deutschland 2002, 107 Min.