Barbara Bollwahn über die Renaissance des Kinos

Denn Dieter Kosslick weiß, was er tut

Der ehemalige Berlinale-Chef Dieter Kosslick betreibt das letzte Kino Berlins - im Einmannbetrieb. Inzwischen rennen ihm „Neocineasten“ die Bude ein

Nur mit größter Vorsicht kann sich Dieter Kosslick in seinem kleinen Büro bewegen. Der abgewetzte Teppichboden ist übersät mit Filmrollen, die ihren silbernen Glanz schon lange verloren haben. Mit Tippelschritten bahnt sich der 80-Jährige einen Weg. Auf seiner Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. „Ich bin ja nicht mehr der Jüngste“, schnauft er. Ängstlich schaut er auf zwei hohe Säulen, zu denen er hunderte von Filmrollen aufgetürmt hat. Zwischen denen muss er durch, will er zu seinem Schreibtisch gelangen. „Jetzt passen Sie mal auf“, sagt er. Kosslick hält die Luft an, zieht den Bauch ein und macht einen gewagten Schritt. „Geschafft“, prustet er und lässt sich in den Stuhl fallen.

Zur Strafe Homecinema

Kosslicks Büro befindet sich im „International“, dem letzten Kino von Berlin. Es liegt am Rand der ehemaligen Sonderwirtschaftszone Ost, in der noch vor zehn Jahren der Krieg der Kinos tobte. Aus und vorbei. Heute erinnert sich kaum jemand an die so genannten Off-Kinos, die seinerzeit von den übermächtigen Kinoketten in den Ruin getrieben wurden, die wenige Jahre später selbst das Zeitliche segneten. Für 20 Euro, die der Eintritt zuletzt kostete, konnte man schon vor zehn Jahren vier HCS bestellen. Und das taten irgendwann sogar die Cineasten und straften die Kinobetreiber mit Homecinema-Abenden. Doch das ist nicht das Gleiche wie früher.

Deshalb wird Kosslick, der von 2001 bis 2011 Chef des Internationalen Filmfestivals „Berlinale“ war, inzwischen wieder von vielen vergöttert. Vor drei Jahren hat er das „International“ von seinem Schicksal als Asia-Sexshop erlöst und die abrissreife Immobilie von seiner Abfindung als Festivalchef erworben. Für einen Euro. Zwar war die Berlinale infolge der Branchenflaute vor achtzehn Jahren überflüssig geworden und damit auch Kosslick, aber seine Filmkontakte haben überlebt. Und sein Engagement.

In den Jahren nach seiner Festivalzeit hatte Kosslick nichts unversucht gelassen, für den Film zu kämpfen. „Schauen Sie“, sagt er, „ich habe noch einige Artikel von damals.“ Er öffnet eine Schublade und kramt einen Packen Papier hervor. Obenauf liegt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Am 12. Juni 2022 hatte es Kosslick zum letzten Mal auf Seite 1 geschafft. Das Foto zeigt, wie er sich, nach einem dreiwöchigen Hungerstreik stark abgemagert, vor dem ehemaligen „Berlinale Palast“ anketten ließ, weil der einer Spielothek weichen musste. „Zehn Kilo weniger, kein Kino mehr“, merkten die Feuilletonisten an.

Wütend schiebt Kosslick die Zeitung beiseite. „Von wegen kein Kino mehr!“, brüllt er und haut mit der Faust auf den Tisch, dass die Filmdosentürme wackeln. „Seit drei Jahren betreibe ich das International!“

Drei Tage in der Woche öffnet Kosslick sein Kino mit den 600 Plätzen. Dienstags, donnerstags und samstags. Er braucht die Ruhetage dazwischen. Die Renaissance des Kinos strengt an. Egal ob er „Vom Winde verweht“, „Die Vögel“ oder „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ zeigt, selbst bei „Der große Diktator“ ist der Andrang so groß, dass er um sein Leben bangen muss. „Die Cineasten sind zwar liebe Menschen. Aber um ins Kino zu kommen, trampeln sie mich fast tot.“ Kosslick krempelt das rechte Bein seiner ausgebeulten Cordhose und den linken Ärmel seines Wollpullovers hoch und zeigt zwei faustgroße Blutergüsse.

„Ich verstehe ja die Leute“, sagt er milde und bedeckt die Blessuren. „Aber ich allein kann die Nachfrage nach Leinwandgeschichten nicht befriedigen.“ Händeringend sucht Kosslick nach einer Immobilie für ein zweites Kino. Die alten sind längst abgerissen oder zweckentfremdet.

„Willkommen beim Film!“ begrüßt Kosslick jeden Kinobesucher und kassiert dann 30 Euro Eintritt

Das „International“ ist ein Einmannbetrieb. Eine Stunde vor Filmbeginn setzt sich Kosslick mit Hut und rotem Schal, Markenzeichen aus seiner Berlinale-Zeit, in das Kassenhäuschen. Obwohl es unter Denkmalschutz steht, hat er Panzerglas einbauen lassen. „Es geht hier um meine Sicherheit“, rechtfertigt er den Eingriff. Mit einem „Willkommen beim Film!“ begrüßt er jeden Kinobesucher und kassiert 30 Euro. Das ist zwar noch mehr Geld, als die Kinos in den letzten Jahren ihrer Existenz verlangten. Aber es ist wenig Geld für eine Reise in die Vergangenheit. Zudem verteilt Kosslick vor jeder Vorstellung Papiertüten mit Popcorn, Eiskonfekt, Taschentücher und eine kurze Abhandlung über die Geschichte des Kinos. „Sie glauben gar nicht, wie viele junge Besucher noch nie in einem Kino waren“, sagt er.

Regelmäßig macht Kosslick Filmvorführungen für Schulklassen. Besonders beliebt sind Stummfilme. „Die lachen sich tot über Buster Keaton“, erzählt Kosslick. Als er neulich „Eins, zwei, drei“ von Billy Wilder von 1961 auf die Leinwand brachte, gab es viel Diskussionsbedarf unter den Schülern. Der Grund waren Zitate wie „Kapitalismus ist wie ein toter Hering im Mondenschein. Er glänzt, aber er stinkt!“. Kosslick guckt traurig. „Wer weiß heute noch, was ein Hering war.“

Sorgfältig verschließt er die Kasse mit den 1.800 Euro, die er für die wie immer ausverkaufte Vorstellung eingenommen hat. Das Geld braucht er zum Erhalt des Gebäudes und zum Erwerb neuer alter Filme auf Flohmärkten. Er trägt die Kasse hoch in die erste Etage, wo er sich an die Bar stellt, die noch genauso aussieht wie bei der Eröffnung vor fast 70 Jahren. Manche Besucher vergessen vor Ergriffenheit ihre Bestellung.

DDR? „Paul und Paula“!

„Ehemaliges Vorzeigekino von Erich Honecker, Staatschef der DDR“ steht auf einem Messingschild hinter der Bar. Jemand tuschelt, wofür denn „DDR“ stehe. Als ein langhaariger Brillenträger „Digital Demo Release“ mutmaßt, hebt Kosslick zu einem Vortrag über den Teil Deutschlands an, der Meisterwerke wie „Paul und Paula“ hervorgebracht hat, und kündigt sofort eine Vorstellung für kommende Woche an.

Plötzlich wird es unruhig in der Schlange an der Bar. „Herr Kosslick, Herr Kosslick!“, ruft ein Mann Anfang 30. „Bier oder Wein?“, fragt Kosslick ungehalten. „Sie sind der Größte!“, ruft der Mann ihm zu und macht eine tiefe Verbeugung. Er stellt sich als Oliver Kunkel vom Verein „Berliner Cineasten e. V.“ vor, dessen Vorsitzender er ist. „Wir haben Ihnen so viel zu verdanken“, sagt er. Aufgeregt erzählt er Kosslick vom Ansteigen der Mitgliederzahlen und der Überlegung, einen Aufnahmestopp zu verhängen, um die Exklusivität des Clubs nicht zu gefährden. Vor wenigen Tagen erst habe sich ein weiterer Verein gegründet, „Die anderen Cineasten e. V.“, der sich in einem improvisierten Kellerkino in Berlin-Kreuzberg treffe. Kosslick lächelt gütig.

Punkt acht haben alle Kinobesucher Platz genommen und gucken staunend in die Popcorntüten auf ihren Sitzen. Als das Rascheln verstummt, löscht Kosslick das Licht und wirft den Filmprojektor an. An diesem Samstag zeigt er „Citizen Kane“, 1941. „Das ist der Moment, den ich am meisten liebe“, flüstert er in die Dunkelheit und hält den rechten Zeigefinger vor den Mund. „Hören Sie.“ Mit geschlossenen Augen lauscht er der raunenden Begeisterung aus den Zuschauerreihen. „Deshalb mache ich das hier“, sagt er.