Alles anders als bei Otto

Alle mögen sich, alle haben Gute-Laune-Pillen geschluckt, alle ignorieren die Bayern. Ist ein Paradigmenwechsel der Grund für Werders Erfolge? Impressionen aus Bremen

VON MARKUS JOX

Gerne rufen einen in diesen Tagen Sportredakteure dieser Republik an. Ob man nicht die Handynummer des Bremer Bildungssenators habe. Sie wollten da nämlich eine Geschichte über Werder Bremen ins Blatt rücken, und da hätten sie sich gedacht, der Willi Lemke könne doch sicher ein paar gepfefferte Statements liefern, vielleicht auch und gerade in Richtung Bayern München.

Lemke? Naja, die amtierende sportliche Leitung des Bundesliga-Tabellenführers Werder Bremen spricht ungern über Themen, die über das jeweils nächste Spiel hinausreichen. Die Lippen von Trainer Thomas Schaaf und Sportdirektor Klaus Allofs werden sehr schmal, wenn sie etwa auf die Meisterschaftschancen oder auf Psychotricks des Ligakonkurrenten aus München angesprochen werden.

Vom ehemaligen Manager Lemke erhoffen sich Pressefritzen dagegen noch immer boshafte Seitenhiebe gegen seinen langjährigen Intimfeind, den wurstigen Uli Hoeneß vom FC Bayern. Und der drahtige „Willi“, wie die Bremer den kleinen Mann mit der Nickelbrille nennen, erfüllt solche Wünsche liebend gerne. „Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, macht der jedes Interview zu Werder“, erzählt sein Sprecher. „Das ist ja sein Hobby.“ Und angenehmer, als sich bräsig über die fürchterlich schlechten Ergebnisse der Bremer Schüler bei der Pisa-Studie zu verbreiten.

In einem großen Gespräch für ein Buch über „40 Jahre Werder Bremen in der Bundesliga“ hat er es dem Bayern-Manager gerade mal wieder so richtig gegeben. „Uli Hoeneß glaubt, mit Geld und Macht Leute niederbügeln zu können“, legt Lemke da los. Es gebe „viele Beispiele“ dafür, „wie er Menschen durch ganz gezielte, harte Attacken mundtot gemacht hat“.

Erst wenn man den freundlich-coolen, stets leise redenden Sportdirektor Allofs gegenschneidet, sieht man wie der notorisch sich erregende Vorgänger mit seinem Beharren auf den Klassenfeind einen Anachronismus verkörpert: Arbeitete sich die grün-weiße Führungsetage mit Lemke und dem absolutistisch regierenden Trainer Otto Rehhagel bis Mitte der Neunzigerjahre gerne zornesrot am übermächtigen Konkurrenten aus Bayern ab, gilt nun die Devise „Ignorieren, Mund halten“. Anstatt alle Welt vollzutexten, bastelt der polyglotte Allofs lieber im Stillen am Kader für die nächste Saison. Dann soll die Branche wieder darüber staunen, was für tolle „Schnäppchen“ Werder auf dem internationalen Transfermarkt geschlagen hat, fast für lau. Wie bei Johan Micoud. Wie bei Valérien Ismaël.

Bayern? Sie reden nicht drüber, aber grade deshalb befürchtet auch kaum einer in Bremen mehr, man könne den Titel trotz sieben Punkten Vorsprung doch noch verlieren – das passierte ja den Rehhagel-Mannen, die 1986 einen Sechs-Punkte-Vorsprung vor den Münchnern vergeigten. Doch das Bayern-Trauma, das seitdem in vielen Bremer Köpfen herumschwirrte, ist gerade dabei, sich zu verflüchtigen.

Am Tag, an dem Bild mal wieder über den „irren Meister-Kampf“ schwadroniert und Oliver Kahn über eine Schiedsrichter-Verschwörung zugunsten der Bremer schäumen lässt, herrscht in der Geschäftsstelle von Werder stupende Gelassenheit. Gerade hat die Mannschaft ihr Vormittagstraining beendet. Im Jogginganzug trottet Trainer Schaaf heran. Reporter konfrontieren ihn mit den neuesten Hoeneß-Attacken aus München. Worauf der mal wieder erklärt, dass ihn „keiner ärgern kann“. Und er im Übrigen auch nicht wisse, wieso er sich ärgern solle. Und so weiter.

Die typischen, sedierenden, abwiegelnden Schaafismen. Kein Gegenangriff, nicht mal eine kleine Geschichte, aber das war eigentlich ja schon vorher klar.

Ein einzelner Junge steht da noch rum und lässt sich von den geduschten Profis einen Fußball signieren. Dann kommt auch der Torhüter Andreas Reinke und schlendert mit einem lang gezogenen „Maaaahlzeit“ an der kleinen Reporterschar vorbei. Niemand will von Reinke darüber hinaus etwas wissen. Jeder weiß, das war das Beste, was man von ihm kriegen kann. Hauptsache, der Kerl erledigt seinen Job.

„Das stimmt nicht“

In der „VIP-Lounge“ des Weserstadions empfängt derweil Fabian Ernst Medienvertreter. Ernst, 24, ist Nationalspieler, und bildet mit Johan Micoud, Frank Baumann und Kristzian Lisztes das an guten Tagen zauberwunderleichte Werder-Rauten-Mittelfeld. Ernst selbst spielt unauffällig, aber immens effektiv. Er ist mannschaftsdienlich, ohne Starallüren und eher mundfaul. Damit steht er Pars pro Toto für das Mannschaftsgefüge, das Schaaf an der Weser aufgebaut hat. Für die wenigen Kapriolen und die forschen Töne haben sie den Tore-Garanten Ailton, zumindest noch ein paar Wochen, ehe der Brasilianer zu Schalke geht, wo er mehr Geld verdient. Dann vielleicht noch den Franzosen Johan Micoud, der Ailton die Bälle auf den Fuß spielt und gelegentlich die Diva gibt. Das war es dann aber auch. „Ich bin ein Führungsspieler“, soll Ernst doch tatsächlich einmal getönt haben. Wenn man ihn damit konfrontiert, kommt sogleich ein leises, scharfes Dementi: „Das stimmt nicht, ich würde das nie von mir sagen“, sagt er und über sein jungenhaftes Gesicht legt sich einen Augenblick lang ein garstiger Schatten.

Er, Fabian Ernst, sei keinesfalls mehr oder weniger wert als die zehn anderen Spieler in der Mannschaft. Im Gegenteil. Die Textbausteine aus dem Baukasten seines Trainers flutschen plötzlich nur so aus seinem Mund.

Es mache schlicht „Spaß, hier zu spielen“, sagt Ernst, „der Thomas“ habe einen guten Draht zur Mannschaft, „der Klaus“ halte intensiven Kontakt zum Team, trainiere sogar mit. Alle Spieler duzen in Bremen Trainer und Manager, das ist nicht branchenüblich. Ernst ist Thomas Schaafs Musterschüler, auch was den Umgang mit der Presse angeht. „Das interessiert mich nicht“ sei derzeit des Trainers Lieblingsfloskel, sagt Ernst. Oder war das schon gepetzt? Schnell legt er Unverbindliches nach. Dass „Bremen im Allgemeinen ein bisschen unterschätzt“ werde. Die Stadt habe eine hohe Lebensqualität: „Alles ein bisschen kleiner, aber auch übersichtlicher.“

Bremen, das kleinste Bundesland, ist – im krassen Gegensatz zu den nachgerade schwäbisch-sparsamen Werder-Geschäftsführern – gebeutelt von Fehlinvestitionen und Werftenpleiten und finanziell nur mehr am Tropf der Bundesregierung überlebensfähig. Und überhaupt sähen es viele kritische Menschen darob gerne in Niedersachsen eingemeindet. Die Erfolge des Fußballvereins trösten die waidwunde Seele des hanseatischen Bürgers: Die Menschen sind – im Rahmen ihrer emotionalen Möglichkeiten, versteht sich – im Werder-Fieber. Pubs und Kneipen, die Bundesliga live zeigen, sind brechend voll – etwa das „Eisen“ oder die „Lila Eule“ im hippen Steintorviertel.

Wer hier auf die große Leinwand glotzen will, muss mindestens eine Stunde vorher um einen Platz kämpfen. Autos fahren gehäkelte Klorollen-Abdeckhauben in den Vereinsfarben spazieren, Friseure bieten grün-weiße Schnitte feil, und der „offizielle Werder-Bäcker“ brütet schon über der Rezeptur seiner „Meisterbrötchen“. Im Werder-Fan-Shop in der Bremer City ächzt ein Mitarbeiter, wie gut man derzeit Trikots verkaufen könne. „Wenn wir denn noch welche hätten“. Leider müssten die Leute mit Schals, Werder-Schnuller oder Werder-Babylätzchen vorlieb nehmen.

Manchmal sieht man vor diesem Fanshop auch einen kleinen Smart stehen. Er ist grün und weiß angestrichen. In großen Lettern steht „Mannschaftsbus“ drauf. Diesen Humor liebt man bei Werder, wo sie auf das grün-weiße Stadionsitzkissen den bizarren Slogan „Der nächste muss aber sitzen“ gedruckt haben.

In dem kleinen Auto sitzt jedenfalls Günther Weiß, 72, Rentner. Weiß macht alles für Werder, geht für die Spieler zum Konsulat oder zum Ausländeramt, manchmal chauffiert er auch Klaus Allofs. „ZbV“, hat ihn Willi Lemke einmal geadelt, „zur besonderen Verwendung“. Auch er kann richtig schwärmen von der „guten Stimmung“, die „überall“ im Verein herrsche.

Der Otto Rehhagel damals mit all seinen Erfolgen sei ja nett und „der halbe liebe Gott hier“ gewesen. Aber er sei halt doch arg distanziert aufgetreten. Immer mit geducktem Kopf an einem vorbei. Derzeit aber stimme einfach alles. Er, Weiß, fühle sich richtig wohl.

Alle fühlen sich richtig wohl bei Werder. Der Weiß, der Allofs, der Schaaf, der Ernst. Und wenn er ehrlich ist, sicher auch der Paradiesvogel Ailton, der doch jetzt schon ins Werder-Kissen weint bei dem Gedanken, dass er bald nach Schalke abzwitschern muss. Das mag etwas banal klingen, aber vielleicht ist es doch ein Gutteil des Erfolgsgeheimnisses.

Der Herr Weiß jedenfalls und seine Frau durchforsten immer die Zeitung nach Sonderangeboten. Und wenn das Persil dann besonders günstig ist, steigt Weiß schnell in seinen Smart und kauft ein. Soviel in sein Auto reinpasst. „Wissen Sie“, sagt Herr Weiß, „Werder Bremen ist ein sparsamer Verein.“