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Archiv-Artikel

Wir müssen raus aus dem Irak

Ein Jahr nach dem Fall Bagdads sollten die Vereinigten Staaten aufhören, neue Truppen in den Irak zu verlegen. Stattdessen müssen die USA an einer Ausstiegsstrategie feilen

Wir brauchen die Unterstützung der UN und der Nachbarländer, um US-Soldaten aus dem Fadenkreuz zu nehmen

Schweren Herzens und mit wachsendem Abscheu habe ich verfolgt, wie sich der schon längst unsinnige Kampf um mehr Sicherheit im Nachkriegs-Irak in den vergangenen Stunden und Tagen zum Schlechteren gewendet hat. Gemeinsam mit vielen Amerikanern schüttelte es mich bei dem Anblick des höllischen Blutbads in Falludscha und der gewalttätigen Aufstände in Bagdad und andernorts. Die Bilder von bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Körpern, die von jubelnden Zivilisten durch die Straßen gezogen wurden, sind der Stoff, aus dem Albträume gemacht werden.

Angesichts der erbarmungslosen und anscheinend allgegenwärtigen Auflehnung sind die US-Soldaten im Irak mutig und entschlossen aufgetreten. Sie haben die Befehle ihres Oberbefehlshabers befolgt, ungeachtet aller Kosten. Doch wundern sich einige sicherlich, warum ein Jahr nach der Befreiung des Irak die amerikanischen Streitkräfte die Hauptlast noch immer allein schultern. Wo sind die Iraker geblieben? Was ist aus unseren viel gerühmten Plänen geworden, irakische Polizei und irakisches Militär zur Entlastung der amerikanischen Soldaten auszubilden und auszustatten? Könnte es sein, dass unsere Erwartungen weit über die Fähigkeit, diese Kräfte zu mobilisieren, hinausgehen? Könnte es sein, dass die Vereinigten Staaten von Amerika wieder einmal die Schwierigkeiten, Frieden im Irak zu schaffen, unterschätzt haben?

Seit Beginn dieses Krieges hat Amerika 121 Millionen Dollar in Krieg und Wiederaufbau gepumpt. Doch Sicherheit lässt sich nicht mit Geld erkaufen – genauso wenig wie Frieden. 121 Millionen Dollar später sind laut Pentagon lediglich 2.324 von geplanten 78.224 irakischen Polizisten „voll ausgebildet“. Nahezu 60.000 der irakischen Sicherheitsbeamten haben überhaupt keine formale Ausbildung erhalten – kein einziger von ihnen! Es ist kaum verwunderlich, dass Sicherheit derart schwer greifbar ist. Die Zeit ist reif für eine neue Herangehensweise im Irak.

Die harte Realität sieht so aus: Ein Jahr nach dem Fall Bagdads sollten die Vereinigten Staaten nicht nach Möglichkeiten suchen, neue Truppen in den Irak zu verlegen. Stattdessen sollten wir an einer Ausstiegsstrategie feilen. Die Tatsache, dass Bush mit seiner Überheblichkeit, im Irak alles im Alleingang erledigen zu wollen, inzwischen Freund und Feind vergrault hat und dass sich die Aufgabe der Internationalisierung des Nachkriegs-Irak zur ungeheuren Last entwickelt, sollte uns in unserer Entschlossenheit nicht behindern.

Weitere US-Truppen in den Irak zu senden ist mit Sicherheit der falsche Weg, uns aus diesem Land zurückzuziehen. Stattdessen brauchen wir die Unterstützung und den Rückhalt sowohl der Vereinten Nationen als auch der Nachbarländer des Irak, um die Besatzung tatsächlich zu einer internationalen Angelegenheit zu machen und US-Soldaten aus dem Fadenkreuz verärgerter Iraker zu nehmen.

Die Flut von beunruhigenden Bildern aus dem Irak verdeutlicht, dass viele Iraker über das Joch der US-Besatzung vor Wut schäumen. Das gilt sowohl für Sunniten als auch für Schiiten. Der derzeitige gewaltsame Aufstand von Anhängern radikaler irakisch-schiitischer Kleriker zählt zu den beunruhigendsten Entwicklungen seit Monaten. Er könnte das Signal zum Beginn des schlimmsten Albtraums der USA sein: eines Bürgerkriegs im Irak, in dem gemäßigte und radikale Schiiten gegeneinander antreten. Überlagert von einem andauernden, von aufgebrachten irakischen Sunniten und radikalen islamischen Agenten geführten Aufstand, könnte ein innerschiitischer Bürgerkrieg den Irak von der jetzigen Instabilität ins reine Chaos stürzen.

So beunruhigend diese Entwicklung auch sein mag – schlimmer ist die Tatsache, dass sie stattfindet, während am 30. Juni die von den USA selbst gesetzte Frist abläuft, um eine irakische Interimsregierung einzurichten: eine Regierung, die bisher weder benannt noch etabliert oder geprüft wurde.

Wo sollten wir nun nach Führung suchen? Im Kongress? Oder im Senat? Der derzeitige Senat, eigentlich die Grundlage der Republik, ist nicht einmal gewillt, sich das Chaos im Irak genauer anzusehen. Senatoren wurden wieder einmal eingeschüchtert, entweder zu schweigen oder zu unterstützen – nicht weil die Politik stimmig wäre, sondern weil das Blut unserer Soldaten und das Leben tausender Unschuldiger an unseren Hnden klebt.

Aber die Fragen, die hier in diesem Gremium laut gestellt werden müssten, werden in diesen Hallen nur geflüstert. Die wenigen mutigen Senatoren, die aufstehen und deutlich ihre Meinung sagen, werden als unpatriotisch abgestempelt und beschuldigt, die Saat des Terrorismus zu säen. Man tut so, als sei jeder, der sich traut, den Präsidenten der USA infrage zu stellen, kaum besser als die Terroristen selbst. So argumentieren Leute, die der Wahrheit lieber nicht ins Gesicht sehen wollen.

Diese Republik wurde auch auf der Grundlage der Arroganz eines Königs gegründet, der von seinen Untertanen erwartete, ohne jede Frage und ohne jedes Zögern zu tun, was ihnen gesagt wurde. Unsere Vorfahren stürzten diesen Tyrannen und führten ein Regierungssystem ein, in dem abweichende Meinungen nicht nur wichtig, sondern zwingend erforderlich sind. Es ist also die Pflicht unserer Regierung, fehlerhafte Führung zu hinterfragen. Nicht zu fragen und nicht auszusprechen bedeutet, das Erbe unserer Gründungsväter abzulehnen.

Bezüglich des Irak behauptet Präsident Bush, sein Entschluss stehe fest. In der Tat ist sein Einsatz enorm. Doch auch der Einsatz der Frauen und Männer ist enorm, die im Irak ihren Dienst leisten und sehnsüchtig auf den Moment warten und beten, zu ihren Familien zurückkehren zu können, und die – obwohl ihre Reihen schmerzlich gelichtet sind – doch ihre Mission würdevoll erfüllen. Der Präsident hat diese Männer und Frauen in den Irak entsandt und trägt nun die Verantwortung dafür, eine Strategie zu entwickeln, um sie wieder aus diesem unruhigen Land herauszuholen, bevor die Verluste untragbar werden.

Ein innerschiitischer Bürgerkrieg könnte den Irak von der derzeitigen Instabilität ins reine Chaos stürzen

Es ist heute ganz offensichtlich, dass die Regierung die Konsequenzen, die eine Invasion im Irak mit sich bringen würde, vor einem Jahr nicht abgesehen hat. Es ist ebenfalls klar, dass die Regierung keinen effektiven Plan hat, wie mit den Folgen des Krieges und dem institutionellen Zusammenbruch im Irak umzugehen wäre. Für den Präsidenten ist es nicht nur höchste Zeit, sondern wahrscheinlich zu spät, dieses Versäumnis nachzuholen und mit dem amerikanischen Volk darüber zu sprechen, über die vielen Fehler, die gemacht wurden, und über die Lehren, die daraus zu ziehen sind.

Die Vereinigten Staaten von Amerika brauchen dringend eine klare Vorstellung davon, wie sie sich aus dem Irak zurückziehen können; eine Vorstellung, die sowohl ordentlich als auch gerissen ist. Ansonsten werden noch mehr unserer Männer und Frauen sterben. Robert C. Byrd

Deutsch von Ute Eggert