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Archiv-Artikel

Werkstatt Europa

Vor dem EU-Referendum: Der Irakkrieg hat das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen auf eine harte Probe gestellt. Skepsis herrscht zwischen Berlin und Warschau. Doch wie es um das deutsch-polnische Verhältnis wirklich steht, erkennt man nicht in den Hauptstädten, sondern im deutsch-polnischen Grenzgebiet

von UWE RADA

Es hätte ein Zeichen werden sollen. Eines, dass sich Europa nicht spalten lässt in ein „altes“ und ein „neues“ Europa. Eine Lichterkette gegen den Irakkrieg sollte die Menschen aus dem deutschen Frankfurt (Oder) mit denen aus dem polnischen Słubice verbinden.

Jedoch blieb das Zeichen aus. Nur etwa fünfhundert Menschen beteiligten sich zwei Tage nach dem Beginn des Krieges im Irak an der Lichterkette. Die meisten von ihnen waren Deutsche. Die Polen, so hieß es in Frankfurt, seien von ihrem Bürgermeister bewusst nicht über die Lichterkette informiert worden. Vorwürfe wie diese gehören inzwischen wieder dazu, wenn es um die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen geht.

Noch vor Jahresfrist galt das deutsch-polnische Verhältnis als Erfolgsstory. Nie in der Geschichte beider Länder – einer Geschichte der Teilungen, der Kriege und des Völkermordes – sei dieses Verhältnis besser gewesen, betonten Polens Präsident Alexander Kwaśniewski und Bundeskanzler Gerhard Schröder bei jeder Gelegenheit.

Das war nicht einmal übertrieben. Während sich Deutsche und Tschechen noch immer über die Benešdekrete streiten, hat man beiderseits der Oder und Neiße längst gemeinsam die Geschichte aufgearbeitet, auch die von Flucht und Vertreibung. Die Erfolgsgeschichte, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs begann, sollte nun, mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur Europäischen Union, ihrem Höhepunkt entgegengehen.

Doch seit Beginn der Irakkrise im Herbst 2002 ist alles anders. Die Unterschrift des polnischen Ministerpräsidenten Leszek Miller unter die Ergebenheitsadresse von Tony Blair und José Maria Aznar an George W. Bush hat in Berlin einen Schock ausgelöst. Dies betraf weniger den Inhalt als vielmehr ihr Zustandekommen. Noch am Tage der Veröffentlichung im Wall Street Journal hatte Miller mit Schröder telefoniert – und ihn mit keinem Wort über seine Unterschrift informiert. Hinter dem Rücken der Europäischen Union, hieß es hinterher in Berlin, sei dieser Brief verfasst worden. Der Traum einer eigenständigen Außenpolitik der EU war geplatzt.

In Warschau wiederum schrillten die Alarmglocken, als sich abzeichnete, dass nicht nur die Achse Paris–Berlin gegen die US-Politik mobil machte, sondern ein um Russland und China erweitertes Bündnis der „Unwilligen“. Berlin einig mit Moskau, das löste in Warschau alte Reflexe aus und erinnerte an die Traumata der Teilungen und des Hitler-Stalin-Paktes.

Laut wurde deshalb darüber nachgedacht, ob US-amerikanische Stützpunkte nicht von Deutschland nach Polen verlegt werden sollten. Und bei einem seiner beiden Besuche in Washington sicherte Alexander Kwaśniewski George W. Bush den Kauf weiterer 48 Kampfjets des Typs F-16 im Wert von 3,5 Milliarden Dollar zu. Dies jedoch bestärkte in Deutschland die Furcht, mit dem polnischen Beitritt käme ein „trojanisches Pferd der USA“ in die EU.

Den Tiefstand erreichte das Verhältnis zwischen „altem“ und „neuem“ Europa, als der französische Staatspräsident Jacques Chirac die Solidaritätsadresse der Polen, Tschechen und Ungarn an Bush mit den Worten quittierte, die Beitrittsländer hätten eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten. So sprachen keine Partner im neuen Europa zueinander, sondern Europäer erster und zweiter Klasse.

Donald Rumsfeld konnte sich die Hände reiben. Er, der Frankreich und Deutschland als Teil des „alten Europas“ bezeichnete und diesem ein „neues“, osteuropäisches Europa entgegensetzte, hatte den Finger in eine offene Wunde gelegt.

Doch schon bevor Rumsfeld Europa wieder teilte, war das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland schwieriger geworden. Hinter dem Glanz der Politikerworte hatte sich die Stimmung zu verschlechtern begonnen, je näher die Osterweiterung der EU – oder aus polnischer Sicht der Beitritt – rückte.

So fiel zwischen April bis Oktober 2002 auch in Ostdeutschland die Zustimmung zur Osterweiterung – von 48 auf 45 Prozent. Erstmals überstieg damit auch in den neuen Bundesländern die Zahl der Beitrittsgegner die der Befürworter. Insgesamt liegt die Quote der Befürworter in Deutschland bei 46 Prozent. Würden die Deutschen ähnlich wie die Polen über die Erweiterung in einem Referendum abstimmen müssen, wäre der Traum von der europäische Integration ausgeträumt.

Noch deutlicher zeigt sich die Skepsis der Deutschen, wenn man sich die Sympathiewerte gegenüber den einzelnen Beitrittsländern anschaut. Während die Mehrheit der Deutschen den Beitritt Ungarns (56 zu 29 Prozent), aber auch Maltas, Tschechiens, Estlands oder Lettlands befürwortet, zeigt sich in der Haltung zum polnischen Beitritt das genaue Gegenteil. Hier sprechen sich 39 Prozent der Deutschen dafür aus, 46 Prozent sind dagegen. Damit herrscht in Deutschland eine weitaus feindlichere Stimmung gegenüber einem polnischen EU-Beitritt als in der restlichen EU. Dort sind 48 Prozent für eine Mitgliedschaft, 34 Prozent dagegen.

In diese ernüchternden Ergebnisse ist der erbitterte Streit über die Politik der USA noch nicht eingeflossen. Vorerst zeigen sich in ihnen jene Ängste, die die Menschen auch sonst bewegen – die zunehmende Angst vor weiterer Arbeitslosigkeit, wachsendem Verdrängungswettbewerb und steigender Migration. Nicht das „alte“ und das „neue“ Europa verbirgt sich hinter diesen Ergebnissen, sondern eine ganz andere Spaltung – die in die vermeintlichen Gewinner und die Verlierer der europäischen Integration.

Das gilt auch in Polen. Auch hier war die Beitrittsstimmung bereits vor der Zuspitzung der Irakkrise und dem Beginn des Krieges gesunken. Das zeigten vor allem die polnischen Kommunalwahlen vom Oktober 2002. Aus ihnen gingen die Partei Samoobrona (Selbstverteidigung) des radikalen Bauernführers Andrzej Lepper wie auch die LPR, die Liga polnischer Familien, als Gewinner hervor. Landesweit erreichten Samoobrona und LPR jeweils siebzehn Prozent der Mandate.

Auch wenn man berücksichtigt, dass die Wahlbeteiligung mit knapp unter fünfzig Prozent einen bisherigen Tiefststand erreicht hat, hat das EU-feindliche Lager in Polen an Bedeutung gewonnen. Selbst in Warschau ist mit Lech Kaczyński, dem Vorsitzenden der neuen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), ein Populist ins Amt des Stadtpräsidenten gewählt worden. Insgesamt, schätzen Meinungsforscher, ist das EU-feindliche Lager bei etwa dreißig Prozent der Wählerstimmen angekommen.

Und es hat bereits die Mitte der Gesellschaft erreicht. „Drang nach Osten“, titelte im November 2002 das konservative polnische Nachrichtenmagazin Wprost auf Deutsch und fügte auf Polnisch hinzu: „Die Deutschen kolonisieren den Osten“. Auf dem Titelbild war ein dicker Bayer in Lederhose zu sehen, die Socken in Schwarzrotgold, in der Hand ein Bier, ein Bild von einem Deutschen also, der es sichtlich genießt, wie die Beitrittskandidaten Polen, Tschechien und Ungarn um ihn herumspringen und „Männchen machen“.

Anlass dieses gezielten Griffs in die Kiste antideutscher Stereotypen war die Debatte im polnischen Parlament, dem Sejm, über den Verkauf des Warschauer Energieversorgers SOEN an die deutsche RWE, die Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG. „Ausverkauf Polens“, riefen in einer tumultartigen Parlamentssitzung die Abgeordneten der LPR und der Samoobrona. Ein Argument, das die Wprost gerne aufnahm. Noch immer, hieß es in der Ausgabe, würden die Deutschen den Osten kolonisieren wollen. Und der Osten würde dies sogar noch freiwillig mit sich machen lassen.

Das Argument des Ausverkaufs ist nicht neu. Alle populistischen Parteien Polens haben sich seiner in den vergangenen Jahren bedient. Die Grundstruktur des Arguments lautet: Was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg nicht geschafft haben, versuchen sie nun auf friedlichem Wege. Nicht mehr deutsche Panzer rücken gen Osten vor, sondern deutsches Kapital.

Neu war allerdings, das die Wprost diesen Populismus auf die Titelseite brachte und die Privatisierung eines Stromversorgers mit dem deutschen Drang nach Osten gleichsetzte, jenem Kreuzzug des Deutschen Ritterordens also, der in Polen nicht nur zu den kollektiven Traumata gehört, sondern auch zu den Mythen der polnischen Unbezwingbarkeit.

Dem „Drang nach Osten“, den in Polen jedes Schulkind auf Deutsch buchstabieren kann, wurde in der Schlacht von Grunwald im Jahre 1410 von den polnischen Truppen nämlich ein blutiges Ende gesetzt.

Angesichts solcher Entwicklungen erschrecken in Polen derzeit auch überzeugte „Amerikaner“ wie Adam Michnik. Michnik, einst Mitbegründer der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność und nun Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, ist ein Mann des Spagats.

Bei einer Diskussion in der Berliner Akademie der Künste hielt er vor einiger Zeit dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass vor, ein Antiamerikaner zu sein. Damals ging es um den Afghanistankrieg, den Grass ablehnte, Michnik dagegen als „Befreiungskrieg“ bezeichnete.

Auf der anderen Seite hat es sich Michnik zur Aufgabe gemacht, mit Hilfe seiner Zeitung die Polen in die Europäische Union zu führen. Als nach nächtelangen Verhandlungen im Dezember 2002 in Kopenhagen der polnische Beitritt feststand, titelte die Gazeta Wyborcza: „Nasza Unia“ – „Unsere Union“. Der Schriftzug war in den gleichen rotweißen Lettern gehalten wie einst der der Solidarność. „Unsere Union“, das ist in der Lesart des ehemaligen Solidarnośćaktivisten Michnik nicht nur ein wirtschaftliches Zweckbündnis, sondern weitaus mehr, es ist die „Rückkehr nach Europa“, wie es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs unter den osteuropäischen Bürgerrechtlern und Intellektuellen hieß.

Umso größer ist für Michnik derzeit das Problem, den Spagat zwischen Amerika und Europa durchzustehen. Noch weiß keiner, inwieweit sich der Krieg im Irak und die damit verbundene Spaltung der Europäischen Union auf das weitere deutsch-polnische Verhältnis auswirken werden. Ob es sich weiter verschlechtern wird oder bald schon wieder die Pragmatiker die Oberhand gewinnen. Ob man die grenzüberschreitenden Kontakte ausbaut oder sich in die Schmollecke zurückzieht. Ob die politischen Eliten sich nach dem Ende des Krieges um Schadensbegrenzung bemühen oder sich so weit voneinander entfernt haben, dass es ihnen nicht mehr möglich sein wird, sich die Hand zu reichen.

Adam Michnik jedenfalls scheint nichts Gutes zu ahnen. Als er Anfang März auf Einladung des Europäischen Forums in Berlin weilte, sagte er einen Satz, der aufhorchen ließ. Die Entscheidung, die Polen in einem Referendum über den Beitritt zur EU abstimmen zu lassen, wäre, so Michnik wörtlich, „der größte Fehler Warschaus in den letzten vierzehn Jahren“ gewesen. Damit hatte Michnik ausgesprochen, was in Warschau sonst nur hinter vorgehaltener Hand debattiert wird: die Angst vor einem polnischen „Nein“ beim Referendum im Juni. Ein Nein, das die Rückkehr nach Europa nicht nur vorläufig beenden, sondern sogar in ihr Gegenteil verkehren könnte.

Europa steht am Scheideweg. Das wird in diesen Wochen deutlicher denn je. Doch welches Europa ist es, das plötzlich so außer Rand und Band geraten ist, so nachhaltig gespalten, dass selbst eine bösartige Bemerkung eines Donald Rumsfeld es in seine bisher tiefste Krise stürzen konnte? Welchen Begriff von Europa hatten die Europäer, bevor ihnen Donald Rumsfeld die neue Teilung in „alt“ und „neu“ erklärte? Glaubten sie ernsthaft, die Europäische Union würde mit der Osterweiterung dieselbe bleiben, zur Not eben gruppiert um ein Kerneuropa aus Berlin und Paris, dem sich die anderen, falls erwünscht, anschließen könnten? Glaubten sie, dass die mittel- und osteuropäischen Länder einen Beitritt vollziehen würden, ähnlich dem der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik?

Und hatte Rumsfeld nicht auch Recht? Gibt es dieses neue Europa, wenn auch vielleicht etwas anders, als es sich der Pentagonchef vorstellt? Weniger von der Haltung zu den USA bestimmt, als vielmehr neu in dem Sinne, dass sich aus dem Zusammentreffen der östlichen und westlichen Kultur des Kontinents eine neue Kultur entwickelt. Eine Kultur, die man im Westen als östlicher, im Osten dagegen als westlicher und europäischer als bisher empfinden wird?

Es war der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, der auf die Möglichkeit eines solchen neuen Europas bereits vor dem Fall der Mauer hingewiesen hatte. „Die Mitte liegt ostwärts“, schrieb Schlögel in einen Aufsatz 1986 zu den Diskussionen über das verloren gegangene Mitteleuropa. Diese Diskussionen, meint Schlögel, seien allerdings nicht in Berlin in Gang gekommen, „sondern in Prag, Warschau, Budapest und in der osteuropäischen Diaspora, in Wien, Paris, New York und Canberra“.

Heute, fügte er vor zwei Jahren in einem Postskriptum hinzu, ist dieses Mitteleuropa bereits Wirklichkeit. „Mitteleuropa ist keine Utopie, keine Idee, keine Erfindung, sondern eine Tatsache, die jeder, der sich dafür interessiert, auffinden, entdecken kann.“

Das klingt wie der trotzige Gegenentwurf zu Rumsfelds spaltender Wahrnehmung. Mitteleuropa ist für Schlögel aber auch das Neue, das sich aus dem alten Blockdenken in Westeuropa und Osteuropa entwickeln kann. „Europa ist in eine neue Gründerzeit getreten“, sagt Schlögel. „Europa berichtigt viele Entwicklungen, die unter den Bedingungen der Teilung nicht möglich waren oder nur in deformierter Gestalt. Es ist alles in Bewegung gekommen. Europa begründet sich neu, und es ist eine Illusion zu glauben, es handele sich jetzt nur um einen Anschluss an etwas, was eigentlich längst fix und fertig ist.“

Dieses Europa zu entdecken sei allerdings nicht mehr die Aufgabe der Politiker und Intellektuellen, denen die Fantasie ausgegangen sei. „Sie denken sich viel zu viel aus, statt ihr Ohr auf die Schienen zu legen, um den heranrollenden Zug zu hören“, meint Schlögel. Das neue Europa wachse „lautlos, fast unbemerkt, unspektakulär. Es wird kaum abgebildet, hat kaum Resonanz, da es von Selbstverständlichkeiten handelt, mit denen sich Berufseuropäer und Konferenzprofis nicht abgeben.“

Um dieses neue Europa „aufzufinden und zu entdecken“, wie Schlögel es formuliert, muss man sich allerdings weniger in Berlin oder in Warschau auf die Suche machen, sondern vielmehr dort, wo die beiden Teile Europas zusammentreffen, in der Grenzregion zwischen Polen und Deutschland. Hier liegt sie, die Werkstatt Europa, entlang einer 465 Kilometer langen Grenze, jener Oderneißegrenze zwischen Stettin und Zittau, die zwar jeder aus dem Geschichtsbuch kennt, kaum einer aber aus eigener Anschauung. Einer Region, die in der Wahrnehmung sowohl der Deutschen als auch der Polen nur als Peripherie vorkommt, nicht aber als das faszinierende Laboratorium, das sie in Wirklichkeit ist.

Zum Beispiel in Guben und Gubin. Längst hat man im kleinen Doppelstädtchen erkannt, dass Europa nicht nur Bürde ist, sondern auch Möglichkeit, hat einen gemeinsamen Stadtentwicklungsplan erarbeitet, weil es irgendwann einmal nicht mehr nötig sein wird, zwei Zentren zu haben. Im Mittelpunkt der Planungen steht die einstige Theaterinsel in der Neiße, auf der bald wieder ein gemeinsames Zentrum der Stadt entstehen soll, ein Ort der Begegnung, den Polen wie Deutsche als den ihren begreifen.

Ein „Wettbewerb der Erinnerungen“, der vor drei Jahren in Guben und Gubin durchgeführt wurde, zeigte, dass dies nicht nur Utopie ist. Dabei begriff Tadeusz Firlej, der den zweiten Preis auf der polnischen Seite gewann, die Neugestaltung der Insel als gemeinsames Stadtzentrum auch als Wiedergutmachung der Zerstörungen Gubens durch die polnischen Neusiedler in „Polens Wildem Westen“. Zahlreiche Ausstellungsstücke, so Firlej, standen nach der Kapitulation der Deutschen im Stadtmuseum bereit, die neuen, die polnischen Bewohner der Stadt zu begrüßen. „Aber das Museum wurde zerstört und ausgeraubt. Und musste das Theater auf der Insel in Flammen aufgehen? Bis heute weiß man nicht, wer das Feuer gelegt hat. Musste man das alles zerstören, weil es deutsch war? War das die Rache für erlittenes Unrecht? Hätte das Kulturerbe nicht für die nächsten Generationen erhalten werden können?“

Heute wird das kulturelle Erbe entlang der deutsch-polnischen Grenze von beiden Seiten als ein gemeinsames Erbe begriffen. Polnische Schüler machen sich in Stettin und Breslau auf die Suche nach der Geschichte ehemals deutscher Städte, die sie nun auch als ihre Geschichte begreifen. Nicht als deutsche, aber als schlesische oder als pommersche Geschichte.

Polnische Schriftsteller wie Paweł Huelle oder Stefan Chwin beschreiben die Inbesitznahme deutscher Städte durch Neusiedler der späten Vierziger- und der Fünfzigerjahre, und sie beschreiben zugleich die Begegnungen der Nachfahren dieser Pioniere mit den Nachfahren der ehemaligen deutschen Bewohner. Es sind Begegnungen, in denen die Neugier die Fremdheit besiegt.

Deutsche Autoren wie Olaf Müller oder Tanja Dückers wiederum entdecken in literarischen Reisen nach Breslau oder Ostpreußen das Land ihrer Großeltern und die Gegenwart seiner heutigen Bewohner. Zwischen Stettin und Görlitz lebt sie noch, die Erfolgsstory von Deutschen und Polen.

Zu diesem gemeinsamen Erbe gehören aber nicht nur die geteilten Städte an Oder und Neiße, die nun wieder zusammenwachsen, sondern auch die gemeinsame Kulturlandschaft. Da ist zum Beispiel der Nationalpark Unteres Odertal, der längst ein Internationalpark geworden ist, in dem deutsche wie polnische Ornithologen zu Hause sind. Das sind die prachtvollen und ausladenden Parkanlagen von Fürst Pückler in Bad Muskau und Łęknica, die längst wieder als ein Ensemble erfahrbar sind.

Und da ist nicht zuletzt die Oder selbst, ein Fluss, der einst einmal die Grenze markierte und nun beide Länder miteinander verbindet. Das historische Erbe, sagt der Soziologe Jerzy Kaczmarek von der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, ist der Anknüpfungspunkt für eine gemeinsame Identität der Bewohner im Grenzgebiet, einer Identität, die sich beide, Polen und Deutschen, erst erwerben mussten.

An der deutsch-polnischen Grenze wächst Mitteleuropa tatsächlich, wie es Karl Schlögel sagt, lautlos und unspektakulär. Und hier kann es wieder auseinander wachsen. Auch dafür sind Guben und Gubin Beispiel. Jahrelang haben die Bürgermeister beider Städte zusammengearbietet, bis sie eines Tages abgewählt wurden. Die Diskrepanz zwischen symbolischer Europapolitik und der Alltagserfahrung war zu groß geworden, sagt dazu der Soziologe Ulf Matthiesen, der am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin die Grenzregionen erforscht. „Ohne lokale Einbettung bleiben die bestgemeinten grenzüberschreitenden Kooperationsversuche ohne nachhaltige Effekte.“

Dies gilt auch für die Frage der Chancen und Risiken des EU-Erweiterungsprozesses. Während von offizieller Seite immer wieder betont wird, dass das Grenzgebiet von der Erweiterung profitiere, da es nun vom Rand in die Mitte rücke, ist Matthiesen skeptischer. Er fürchtet sogar eine weitere Peripherisierung. „Die Entwicklungsdynamiken im Prozess der europäischen Verflechtungen drohen die eigentlichen Grenzregionen, damit auch die Grenzstädte ‚froschartig‘ zu überspringen. Stattdessen werden sich die neuen transeuropäischen Entwicklungsdynamiken auf wenige energisch sich entwickelnde Stadtregionen in der zweiten Reihe konzentrieren, in Berlin Szczecin, Poznań.“

Das Grenzgebiet ist also beides. Es ist europäisches Labor und europäische Peripherie zugleich. Im Grenzgebiet entstehen nicht nur Formen der neuen deutsch-polnischen Zusammenarbeit, hier lässt es sich auch erfahren, wie es sich lebt in einer Region, die wie Guben und Gubin von Abwanderung und Schrumpfung betroffen ist. In einem Europa also, dessen Topografie nicht nur von „alt“ und „neu“ im Sinne Rumsfelds, nicht nur von neuen Gewinnern und Verlierern, sondern auch von neuen Zentren und neuen Peripherien gekennzeichnet ist.

Es ist kein leichter Weg, das hatte auch schon Karl Schlögel prophezeit, als er den Westen warnte, dass ihm bevorstehe, was der Osten längst bewältigt habe. Im neuen Europa heißt es, „sich auf die Risiken der Zwischenzeit einzulassen, in der ein alter Zustand unhaltbar geworden ist, ein neuer sich aber noch nicht verfestigt hat; im Provisorium leben zu können, ohne dass dies als Weltuntergang empfunden würde; nicht in Panik und Hysterie zu verfallen, wenn die Selbstverständlichkeiten einer Lebensform aufhören, selbstverständlich zu sein; sich einzulassen auf eine Suchbewegung, deren Ende man noch nicht kennt“.

Wie dieses neue Europa, das derzeit an der Grenze zwischen Deutschland und Polen entsteht, einmal aussehen wird, ist also von vielen Faktoren abhängig. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit Symbolen wenig, mit Alltagserfahrungen und tatsächlichen Begegnungen umso mehr zu tun haben.

Im deutsch-polnischen Grenzgebiet, der Werkstatt Europa, hat man sich nach den Jahren der Euphorie als Erstes wieder skeptisch gezeigt gegenüber einer bloß symbolischen Europapolitik. Hier wird man sich aber auch, wenn sich der Pulverrauch über Bagdad verzogen hat, als Erstes wieder aufeinander zubewegen.

UWE RADA, 39, ist Redakteur im taz-Berlinressort. Sein Text ist eine gekürzte Fassung seines Vortrags am Center for European Studies an der Harvard University. Im Dezember erscheint im Be-Bra-Verlag Radas neues Buch „Zwischenland. Zukunftsgeschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet“