„Wir leben nicht in Berlin“

Fünf Jahre nach dem Bundestagsumzug haben sich Abgeordnete und Mitarbeiter des Parlaments mit Berlin arrangiert – widerwillig. Von der neuen Hauptstadt aber bekommen sie nicht viel mit

von JOHANNES GERNERT

Vor kurzem war Carsten Schneider für ein Wochenende in Berlin. Er musste nicht hinfahren. Er ist einfach dageblieben. Seine Frau hat ihn besucht und sie sind ins Theater gegangen. Eine Premiere. Nicht für das Stück. Aber für Schneider. Normalerweise kommt er nicht ins Theater. Normalerweise bleibt er am Wochenende auch nicht in Berlin. Schneider ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus Erfurt. Als das Parlament vor fünf Jahren von Bonn nach Berlin zog, ist auch Schneider mitgekommen.

Hier hat er mit jungen SPD-Abgeordneten, er ist mit 27 Jahren der Jüngste, das Netzwerk Berlin gegründet. Und eine Zeitschrift: die Berliner Republik. „Der Name ist von mir“, sagt er. Der Begriff stammte von dem Soziologen Heinz Bude. Zum Netzwerk gehörten „40 Leute, die die Zukunft der SPD bestimmen werden“, sagt Schneider bestimmt. Ein bisschen seltsam ist das schon, dass sich die sozialdemokratische Zukunft ausgerechnet im „Kölschen Römer“ trifft. Die Kneipe liegt im Bierdunstkreis der „Ständigen Vertretung“ am Bahnhof Friedrichstraße, wo anfangs viele Bonn in Berlin zu finden glaubten, weil es Kölsch gab. Touristen überlegen dort heute noch, ob der Typ am Nebentisch wohl Abgeordneter ist.

Wolfgang Bötsch werden sie nicht treffen, obwohl er Bonns überschaubare Kneipenlandschaft vermisst. Der CSU-Abgeordnete hat Anfang der 90er in der Hauptstadt-Debatte gegen Berlin gestimmt. Er hat auch gegen Berlin geredet. Er hat es kein bisschen bereut. Bötsch hat Bonn nie für ein Provisorium gehalten, wie viele es immer noch tun: „Das war doch keine Bananenrepublik, das hat von dort aus alles gut funktioniert.“

Er ist nicht nur Abgeordneter und Postminister a. D., er arbeitet auch als Anwalt – manchmal in der Alt-Hauptstadt. „Ich will nicht sagen, dass ich weine, wenn ich mal wieder zurückkomme“, sagt er. „Aber Bonn war übersichtlicher, bescheidener. Man war eher beieinander.“ Der Kontakt zwischen den Abgeordneten sei in Berlin verloren gegangen, findet er, auch der zwischen den Parteien. Es gebe kaum noch Schafkopfrunden. Netzwerke spinnen die anderen.

Für Carsten Schneider war Bonn nur eine Station auf der Durchreise. Er wohnte in einem Dorf, an dessen Namen er sich nicht genau erinnert, in einer möblierten Kellerwohnung, in der sich alles feucht anfühlte, obwohl es gar nicht feucht war. Sein Büro war ein Container. Einer von diesen, in denen bei Hochwasser die Akten gesichert wurden, weil der Rhein sie sonst nass gemacht hätte. Und dann waren da noch die alteingesessenen Abgeordneten, die es sich bräsig bequem gemacht hatten. „Alle Plätze waren besetzt und alle Kneipen schon seit 30 Jahren vergeben“, erinnert sich Schneider. In Berlin gab es unbesetzte Kneipen mit freien Plätzen.

Das Leben im Dreieck

Aber die Bescheidenheit war hin. Spätestens als die Abgeordnetenhäuser fertig waren. „Diese riesigen Hallen als Bürogebäude, alles verschwendeter Platz“, sagt Wolfgang Bötsch. Sein Leben verläuft im Dreieck. Zwischen Wohnung, Jakob-Kaiser-Haus, wo sein Büro liegt, und dem Reichstag. Selten, ganz selten geht er in ein Restaurant. Die meiste Zeit sitzt er in seinem geräumigen Büro mit den hellen Möbeln. Ein Privilegierten-Arbeitszimmer für ehemalige Landesgruppenchefs mit Blick auf den Reichstag. An einem Schrank hängt sein altes Postminister-Nummernschild, von der Wand schaut Franz Josef Strauß: als Jubiläumsbriefmarke in Übergröße. „Manche in der CSU haben sich damals gefragt: ‚Wie hätte Franz Josef Strauß abgestimmt?‘“, sagt Bötsch. Er schüttelt den Kopf. Er nicht.

Von seinem Büro aus gelangt er direkt in den Reichstag, unterirdisch. Die Wohnung ist auch nicht weit weg. Wilhelmstraße, direkt um die Ecke. „Eine renovierte Edelplatte“, sagt Bötsch. Die Genossen Franz Müntefering und Anke Fuchs wohnen auch dort. Friedrich Merz ist wieder ausgezogen. Dem waren die Türstöcke zu niedrig. Da ist er immer angestoßen. Wolfgang Bötsch passt in die Platte, zumindest was die Türen anbelangt.

Mit seinem Nachbarn, Palic heiße der oder so ähnlich, hat er schon mal Silvester gefeiert. Der Nachbar meinte, bei ihm könne man das Feuerwerk am Brandenburger Tor besser sehen. „Die Aussicht: phänomenal“, erzählt Bötsch. Er war übers Wochenende in Berlin geblieben. Es gibt dafür genau zwei Anlässe: das Pokalendspiel im Mai und Silvester. Sonst fährt er nach Würzburg, in den Wahlkreis. Bötsch hat sich mit Berlin arrangiert – widerwillig. Um die Abgeordneten habe man sich hervorragend gekümmert. „Nur die Mitarbeiter, für die war das ein großer Schock.“ Wenn einer im Rheinland ein Haus finanziert hatte, dann habe er dafür in Berlin gerade mal eine Wohnung bekommen.

Antonius Müller hat mittlerweile ein zweites Haus gebaut. Oder ein drittes. In Kladow bei Spandau. Er will nicht genau sagen, wie viele Häuser er hat, aber es sind offenbar genug. Er habe eben gespart, als andere in die Kneipe gingen. Müller leitet den Parlamentarischen Plenar- und Ausschussassistenzdienst. Man könnte ihn den obersten Frackdiener nennen.

Ganz am Anfang, direkt nach dem Umzug, ist er zwischen Bonn und Berlin gependelt. Es gab einen Zug, der von Charlottenburg nach Bonn fuhr – ohne Zwischenstopp. Abfahrt war freitags um 14.26 Uhr. Zurück ist Müller am Sonntag immer geflogen. Er wohnte in Lichtenberg in der Platte. Viele Kollegen wohnten da. Heute sind die meisten ausgezogen. Nach Pankow, Klein-Werder, Wandlitz. Manche auch nach Mitte, an den Hackeschen Markt etwa. „Wenn einer oft ins Theater geht“, sagt Müller.

In Mitte ist alles okay

Kulturell hat Berlin Bonn etwas voraus. Etwa drei Opernhäuser. Bötsch geht gerne in die Oper, und in Bonn gab es nur eine. Das schätzt er schon an Berlin. Von Würzburg aus aber, muss er dann einschränken, hat man acht Opern in Reichweite, wenn man knapp zwei Stunden Fahrt in Kauf nimmt. Nur wegen der Opern hätte man nicht umziehen brauchen. Und schon gar nicht, um „an den Problemen dran zu sein“. „Dieser Thierse“, sagt Bötsch, habe das damals immer verkündet. „Die Leute müssen nach Berlin, da wo alle Probleme sind“, imitiert er mit ironischem Pathos. „Der Thierse und seine philosophischen Reden – alles fürs Feuilleton“, sagt er. „Ich erlebe Berlin natürlich nicht als Berlin. Wir leben hier überhaupt nicht in Berlin.“ Bötsch lebt in Mitte: „Hier ist alles okay“.

Carsten Schneiders Wohnung liegt im selben Bezirk, am Rosenthaler Platz. Vor seiner Wohnung, 29 Quadratmeter, großes Bad, Kochnische, 330 Euro warm, kann man sich in die Schaufenster schicker, mittiger Cafés setzen. Schneider geht nicht oft hin: „Ich frühstücke normalerweise nicht.“ Am Morgen, gegen neun, holt ihn die Fahrbereitschaft ab. Am Abend kommt er zum Schlafen zurück. Manchmal kuckt er Champions-League-Spiele im „Magnet“, zwei Straßen weiter. Am Wochenende ist er sowieso im Wahlkreis. Genau zweimal ist er bisher in Berlin geblieben.

Antonius Müller fährt mit seiner Frau nur noch selten nach Bonn. Vor allem zum Karneval. Obwohl die Entscheidung, dem Bundestag zu folgen, ihm nicht leicht fiel. Als die Parlamentarier für Berlin stimmten, lebte seine Mutter noch, die Kinder gingen zur Schule. „Die Frau war unterzubringen“, sagt Müller. Und vor allem: „Ich war 50 Jahre Rheinländer, 50 Jahre Godesberger. Das wäre gelogen, wenn ich sage, das ging alles vollkommen problemlos.“ Die Kinder haben ein bisschen gemurrt. Sie sind dann auch nicht mitgekommen. Jetzt studieren sie in Frankfurt und Köln. Die Müllers haben einen neuen Freundeskreis. Sie haben sich eingelebt. „Jede Landschaft hat ihre Reize“, sagt Müller. Früher war es das Siebengebirge – „wir Rheinländer sagen das siebte Weltwunder“ –, heute ist es der Heiligensee, die Havel.

Im Bundestag jedenfalls ist „der Bonner Geist drin geblieben.“ Dafür haben auch die Frackdiener gesorgt, die nur für kurze Zeit in Berlin aushalfen, um das neue Personal einzulernen und Lektionen in Bonner Beschaulichkeit zu lehren. „Das ist der ehemalige Vizepräsident Becker, das ist okay, wenn der durchgeht“, hat Müller dann gesagt. Die kannten den nicht, die wollten ihn allen Ernstes kontrollieren. Auch die Neuen haben den Bonner Geist mittlerweile ein bisschen kapiert.

Wenn er einmal Zeit hätte, dann würde Carsten Schneider in den Zoo gehen: „Ich bin ein großer Zoopark-Fan“. „Nächstes Mal“, denkt er jeden Freitag auf der Fahrt zum Bahnhof.