: Letzte Chance für etwas Gerechtigkeit
Kambodscha könnte jetzt doch noch einen Gerichtshof zur Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer bekommen
PEKING taz ■ Werden die Roten Khmer doch noch vor Gericht gestellt? Oder können die Führer des Regimes, das den Tod von fast zwei Millionen Kambodschanern verantwortete, weiter ihren Lebensabend genießen? Nach jahrelangem Streit zwischen der UNO und Kambodschas Regierung von Premierminister Hun Sen scheint ein Tribunal gegen die Roten Khmer nicht mehr ausgeschlossen: Der UN-Beauftragte Hans Corell unterzeichnete gestern mit Innenminister Sok An in Phnom Penh ein Abkommen zur Errichtung eines speziellen Rote-Khmer-Gerichtshofs.
Gemäß des auf einer UNO-Resolution vom 13. Mai 2003 basierenden Vertrags soll das aus zwei Kammern bestehende Tribunal über Verbrechen urteilen, die zwischen dem Sieg der Roten Khmer im April 1975 und ihrer Vertreibung durch Vietnams Truppen aus Phnom Penh am 7. Januar 1979 verübt wurden. Um „unparteiische“ Urteile zu garantieren, soll das Gericht in Kambodscha einheimische und internationale Juristen haben.
Der Beginn der ersten Prozesse noch offen. Kambodscha wählt am 27. Juli ein neues Parlament. Es muss das Abkommen ratifizieren. Auch muss die UNO Gelder bereitstellen. Erste Schritte seien „frühestens 2004“ zu erwarten, sagt ein Bürgerrechtler in Phnom Penh. Wie viele Beobachter zweifelt er, dass es überhaupt dazu kommt. Denn der Versuch, über die Verbrechen jener Zeit zu urteilen, scheint längst eine Farce zu sein. Immer wieder verzögerte sich die Entscheidung über das Tribunal.
Außer einigen Menschenrechtlern scheint niemand mehr an einem Verfahren interessiert: Ehemalige Rote Khmer sitzen längst wieder in Verwaltung, Armee und Parteien. Hun Sen hatte mehreren wichtigen Führern der Roten Khmer, die bis in die 90er-Jahre seine Regierung bekämpften, Straffreiheit zugesichert, um den Krieg zu beenden. Die USA und China waren kaum oder gar nicht an einem Prozess interessiert, weil er zeigen würde, dass sie die Roten Khmer zeitweilig unterstützten.
Der letzte Versuch eines Tribunals scheiterte im Februar 2002. UNO-Experten erklärten damals die wegen Inkompetenz und Korruption berüchtigte Justiz Kamboschas für unfähig, ein faires Verfahren zu garantieren. Ihr Argument: „Lieber kein Prozess als ein schlechter Prozess“.
Hun Sen – einst selbst Roter Khmer, bis er sich gegen die Organisation wandte – bestand auf einem Tribunal in Eigenregie. Er lehnte die Forderung der UNO nach Kammern mit internationalen Richtern strikt ab. Nach dem jetzigen Kompromiss sind Kambodschaner zwar in der Mehrheit, Entscheidungen können aber nur mit Unterstützung mindestens eines ausländischen Juristen gefällt werden.
Niemand zweifelt, dass dies die letzte Chance ist, die Männer und Frauen zu bestrafen, deren Bauernarmee kurz nach dem Einmarsch in Phnom Penh 1975 die gesamte Bevölkerung aus der Stadt vertrieb, um ihre Vision eines extremen Bauernkommunismus zu verwirklichen. Nach dem Tod Pol Pots 1998 drohen nun auch andere Verantwortliche wegzusterben. Die ehemalige Nr. 2, der 77-jährige Nuon Chea, einst für die „interne Sicherheit“ zuständig, ist schwer krank. Sein Nachbar in der früheren Rote-Khmer-Enklave Pailin ist der 72-jährige Khieu Samphan, einst Regierungschef und UNO-Vertreter des Regimes. Nur zwei hohe Funktionäre wurden bisher festgenommen: Exmilitärchef Ta Mok und Kaing Khek Ieu, früher Leiter des Foltergefängnisses Toul Sleng, in dem über 14.000 Menschen starben.
An Zeugnissen über die Verbrechen mangelt es nicht. Die Roten Khmer führten akribisch Buch über ihre Verhaftungen angeblicher Verräter, Spione, Konterrevolutionäre, Intellektueller und andere Feinde. In Archiven liegen hunderttausende Akten.
JUTTA LIETSCH