: Ein Leben auf dem Hochbett
Über die Utopie der freien Sexualität und das Gefühl, nach fast drei Jahrzehnten wieder im Supermarkt Schlange stehen zu müssen: Ein Besuch beim Berliner Künstler und Musiker Theo Altenberg, der 27 Jahre in Otto Mühls AAO-Kommune gelebt hat
VON DETLEF KUHLBRODT
Über den Kollegen DJ war ich zu Theo Altenberg gekommen. Die beiden hatten sich im Technoumfeld kennen gelernt. Altenberg ist Künstler, Musiker, Anfang 50 und hatte 27 Jahre in der Aktionsanalytischen Organisation-Kommune des Wiener Aktionisten Otto Mühl gelebt und ein paar Jahre deren Zeitung herausgegeben.
Einer, der alles gut überstanden hat, sozusagen der Günther Schabowski der AAO, die Anfang der Siebzigerjahre entstand, als der ehemalige Hauptschullehrer Mühl, deprimiert vom Alleinsein, Leute aus der linken Wiener Szene eingeladen hatte, mit ihm zusammenzuwohnen. Das „Ende der Zweierbeziehung“ und der „verbrecherischen Kleinfamilie“ wurde ausgerufen, das Privateigentum abgeschafft, das heißt zusammengelegt. Man trug Latzhose und Glatze, machte freie Sexualität und Aktionsanalyse und glaubte, dass sich die ganze Welt mal so organisieren würde.
Mitte der 70er zog die Kommune auf einen Bauernhof ins Burgenland. 600 Kommunarden erwirtschafteten in den 80ern beträchtlichen Gewinn mit Immobiliengeschäften, Börsenmaklerei und Schulungskursen. Man hatte eine Schule, prominente Fürsprecher wie Beuys und Bruno Kreisky, und die Kommunarden wurden vom Cheforthopäden der österreichischen Nationalmannschaft behandelt. Ende der Achtzigerjahre zerbrach die Aktionsanalytische Organisation, wohl vor allem am Machtwahn ihres Gründers, der 1991 wegen Unzucht mit Minderjährigen zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.
Kollege DJ hatte mir Bücher und eine CD von Theo Altenberg gegeben. Altenbergs Fotos von nackten, befreiten Menschen wirken heute befremdlich, und die CD „Collaborations“ klingt wie eine Mischung aus frühdrogenesoterischen Genesis und Techno. Seine Wohnung im Prenzlauer Berg ist gemütlich. Auf dem Boden brauner Sisalteppich. Niedrige Tische. Die Schubladen der Kommoden haben unterschiedliche Farben. In seinem Zimmer gibt’s ein kleines Tonstudio, viele Platten, Tee. Altenberg raucht, natürlich „American Spirit“.
Ich frage Altenberg nach den Missbrauchsgeschichten. Er erzählt von einer Frau, die vom Kommunemonarchen bedrängt worden sei und die sich solange verweigert habe, bis sich selbst ihre Mutter wunderte, dass ihre Tochter nicht von Mühl in die Geheimnisse der Sexualität eingeweiht werden wollte. Derlei sei in der Niedergangsphase der Kommune geschehen, als Mühl schon zum „autoritären Pinscher“ mutiert gewesen sei. Er, Altenberg, sei einer der wenigen gewesen, die sich damals empört hätten.
Anfangs sei Mühl vor allem ein Charismatiker mit irrem Humor gewesen. Jeden Abend hätte er am Klavier gesessen und den Kindern Märchen erzählt. „Nachdem zum Beispiel Beuys zu Besuch gewesen war, gab es monatelang Beuys-Märchen. Beuys im Eichenwald, und dann kommt irgendwann ein Monster oder eine Fee. Seine Märchencollagen waren großartig.“
Wir wechseln das Thema. Altenberg erzählt, wie er in den Neunzigern in München zur Technomusik kam. Erinnerungsflash: Die Technoleute hätten ja so ausgesehen, wie sie früher, und er habe so begeistert getanzt, dass die Leute dachten, er sei auf „E“. Und dann hätten sie ihn gefragt, ob er nicht noch Pillen dabei habe und er habe gesagt, nö, und fresst nicht so viel Pillen und „die Pille bist du!“.
Einen Monat war Altenberg dann unterwegs, in Wien bei einer Großausstellung über den Aktionismus, in Riga bei der Ausstellung eigener Sachen, in Sri Lanka auf Urlaub. Dann trafen wir uns noch mal.
Also: Mit 18 hatte er Wilhelm Reich gelesen. In seiner ersten Kommune sollte die Zweierbeziehung relativiert werden. Beim Gruppengefummel im Gruppenschlafraum gab’s „gleich so eine Welle von Eifersucht und Angst“. Also andere Kommunen besuchen; solche mit „Chefideologen, die einen erst mal auf Linientreue abcheckten“, Hippielandkommunen, deren „Hauptziel“ war, „gut zu kiffen und abzuhängen“, und die meist einen „Oberhippie“ hatten, „der vielleicht auch noch einen Alternativverlag hatte und immer auch ein paar schnuckelige Mädels um sich, die ihn bewundert haben – damals waren die Mädchen hauptsächlich noch Groupies“. Dann Otto Mühls Kommune in der Praterstraße: „Extrem locker. Beim ersten Besuch hatten die Frauen gleich gefragt, ob wir nicht ne Orgie machen wollten. Und als wir schon völlig aufgeregt waren, sagten sie dann: ‚Keine Angst, es war nur ein Spiel.‘“
Mühl sei eine „Ausnahmefigur wie Timothy Leary“ gewesen und „sie alle hätten Kunst gemacht, die integriert war in den Alltag.“ Die Frauen hatten die Betten und die Männer mussten die Frauen fragen, ob sie mit ihnen schlafen wollten. Männer konnten Frauen nicht einladen. Erst mal ein paar Wochen gucken, „bis mich zwei Frauen dann eingeladen haben: ‚Aber ich weiß gar nicht, ob ich mit dir schon Sex haben kann.‘ ‚Macht ja nichts. Schlafen wir einfach so zusammen und quatschen ein bisschen.‘ Das fand ich sehr okay.“
Die meisten Kommunarden hatten liberale, also reiche Eltern – sein Vater war Textilfabrikant – und kamen wie er aus einer „gescheiterten Beziehung“. „Der Sex wurde nicht anders gehandhabt, als abends zusammensitzen, reden, irgendwas aushecken und einen Joint rauchen. Ein Joint war immer gut, um das Ganze auch irgendwie witziger zu sehen. In der Anfangszeit hatten wir die Hälfte von unserem Geld für Hasch ausgegeben.“
Musste man wirklich jede Nacht mit jemand anderem schlafen? „Gute Frage.“ Altenberg zögert, als hätte er die Frage nicht schon tausendmal beantwortet. Sich jede Nacht mit einer anderen zu verabreden sei Usus gewesen. Mit Leuten, die man tatsächlich gut fand, fickte man halt tagsüber. „Manchmal lagen wir auch nur auf dem Hochbett zusammen wie ein Haufen kleiner Katzen und hatten uns aus Decken eine Burg gebaut, und jeder erzählte von seiner Kindheit. Oder was grad mit ihm abging.“ Das gesellschaftliche Klima sei noch sehr autoritär gewesen. Die Väter, die meist im Krieg gewesen seien, hätten nur gearbeitet, seien also für die Kinder nicht vorhanden gewesen. Deshalb vielleicht diese komische Mischung aus Infantilität, Regression, Fixierung auf den Übervater und allabendlichen Exorzismen, den so genannten „Selbstdarstellungen“.
„Alle saßen im Kreis, und wer in der Mitte des Kreises war, sollte irgendwas Existenzielles aus sich herauszaubern. Es kam vor, dass jemand auf dem Boden lag, in seine Kindheit reinrutschte und erzählte, wie sein Vater ihn verfolgt und verprügelt hat; erschütternde Schilderungen, die oft schon den nächsten in die Mitte rissen, der etwas Ähnliches erlebt hatte. Manchmal kamen auch schwere Psychopathen. Die Hardcorekindheiten hatten. Für die war die Gruppe eher ein Horrortrip. Die rasteten bei den Selbstdarstellungen einfach aus. Wir wollten unbedingt, dass das auch eine künstlerische Form ist. Da immer mehr Gäste kamen und Selbstdarstellung machen wollten, war das der Renner von uns. Da haben wir dann Geld für verlangt.“
„Es gab immer so einen leichten Frauenüberschuss, und am Schluss sind immer mehr Männer ausgezogen. Weil die Frauen zu kurz kamen, gab es dann Listen: Wer, wann, mit wem. Der sexuelle Druck machte die Männer aber immer impotenter, und es war ein Desaster. Männer fingen an, Ausreden zu erfinden. Das Tiefere hat gefehlt. Sex ist anders, wenn man jemanden liebt. Nach der Kommune habe ich mich dann verliebt und hatte überhaupt keine Lust mehr, eine andere Frau zu begehren.“
Die Aktionsanalytische Organisation ist wohl an vielerlei gescheitert: Hierarchiebildung durch Arbeitsteilung, zu viele waren dabei, „die eigentlich nur unterkriechen wollten und dann unfähig waren, das in Frage zu stellen, als Mühl durchdrehte“. Altenberg erzählt, wie Mühl, der doch immer die freie Sexualität gepredigt hätte, 1987 seine Lieblingsfrau heiratete: „Absurd.“
Altenberg scheint immer noch gekränkt. Jahrelang albträumte er von Mühl. Nach einem besonders üblen Albtraum nahm er ein homoöpathisches Mittel. „Dann träumte ich wieder von Mühl. Nur war alles umgedreht. Er ist krank und ich komme als Heiler zu ihm und bin völlig friedlich gebend. Danach hatte ich nie mehr diese Horrorträume von ihm und konnte auch wieder die positiven Aspekte von Mühl sehen; wie sehr er mich als Künstler unterstützt hat, wie viel ich von ihm gelernt habe im Umgang mit Menschen. Und er hat mich auch geliebt. Das war schon auch eine amuröse Beziehung. Und ich hab dann beschlossen, zu ihm zu fahren nach Portugal, ihm zu verzeihen und meine Seele damit zu reinigen.
Warst du repräsentativ?
„Ich glaub nicht. Ich bin da ja hingekommen, als es noch dreißig Leute waren. Ich war Tanzlehrer, Gesangslehrer, Sunnyboy und hab sicherlich viele tolle Sachen erlebt, die andere nicht erlebt haben. Viele hatten sich in der Kommune so entfremdet von der Gesellschaft, dass sie nachher große Probleme hatten, sich in der Großstadt wieder zurechtzufinden. Die waren wie DDR-Bürger, die sich plötzlich im Westen zurechtfinden sollten.“
Wie war es für dich danach?
„Erniedrigend. Dass du plötzlich wieder im Supermarkt Schlange stehen musstest. Man verliert in dieser Gesellschaft so viel Zeit mit Nebensächlichkeiten. Als Gruppe bist du einfach privilegiert. Mein Sohn, der sechs war, als die Aktionsanalytische Organisation zerbrach, hat gesagt, das war für ihn die Hölle, zum ersten Mal in ein Haus zu kommen, in dem lauter Fremde wohnen. Nun möchte er auch eine Kommune gründen.“
Theo Altenberg erzählte noch von einem Kommunefilm, den er im Sommer drehen will, von der Homophobie Mühls und dass er unbedingt wieder in einer altersmäßig gemischten, antiautoritären Kommune wohnen würde. Schwierig, das, was man von der AAO und Mühl gelesen hat, mit dieser Begegnung, mit diesem sympathisch unaufdringlichen Menschen zusammenzubringen. Zu meinen, durch das Durchbrechen von Tabus und Ekelschranken, durch freie Sexualität, durch Schreien, durch das Sichausliefern an die Gruppe, zum ganzen Menschen zu werden, kommt einem ja zunächst frivol bis verantwortungslos vor. Vor allem, wenn man grad Liebeskummer hat. Und auch die Fixierung auf den Übervater Mühl will man nicht recht verstehen. Andererseits wird das Elend der real existierenden Sexualität ja eher unterschätzt.
Vor dem Treffen hatte Kollege Höge von einem Bremer AAO-Ableger berichtet, in dem vor allem ehemalige Heimkinder gewohnt hatten. Das Proletarische an der AAO-Praxis habe er gut gefunden, dass die nicht so sprachfixiert, sondern körperorientiert gewesen seien. 1987, bei einem Besuch im Friedrichshof, habe er einen guten Eindruck gehabt. Mühl wäre wohl vor allem deshalb angezeigt worden, weil es sonst keine Möglichkeit gegeben hätte, ihn zu stürzen. Das schimmerte, so schien mir, auch zwischen Altenbergs Sätzen durch. Und beim Zurückfahren dachte ich, wie schön es doch gewesen wäre, auch mal in einer Hippiekommune mit lauter nackten Mädchen gewohnt zu haben.