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Archiv-Artikel

Ach, wär man doch ein lediger Landarzt

Für viele arbeitslose Mediziner gäbe es eine Landarztpraxis. Dort flöge ihnen der Sinn des Lebens nur so zu

Auch wenn einen darüber die Frau verließe – immer unterwegs im manilagrünen Audi, selbst bei Eis und Schnee. Und abends müde die Füße vorm Kachelofen ausstrecken. Oder milde gestimmt in der Marktschänke herumsitzen. Wo einem der Sparkassenfilialleiter unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriete, dass besonders die alten Damen langsam Vertrauen zu einem gewännen. Alle anderen kämen dann automatisch. Er fragte, ob man schon gehört habe, dass die Landarztpraxis in Temnitz vakant sei. Das Haus befände sich im Gemeindebesitz. Der Nachfolger von Dr. Schultheiß bekäme es geschenkt – er müsse sich aber auf 20 Jahre verpflichten, dort zu praktizieren.

Ach, wäre man doch ein junger Landarzt! Aus Berlin hätten sich bereits elf arbeitslose Mediziner gemeldet, wo es angeblich 1.112 solcher Ärzte gäbe, die nur auf ein derartiges Schnäppchen warten würden: ein Landhaus, dazu eine gut ausgebaute Praxis mit einem soliden obzwar überalterten Patientenstamm, aber immer interessanteren Neuzugängen – wie etwa grüne Witwen und schwarze Junker, die früher Klawutke hießen und nun von Klochow. So einer habe neulich bereits einen adligen Saufclub gegründet mit einer geschwollenen Leber in Gold als Vereinsabzeichen. Zwar dürften dort keine Bürgerlichen mittrinken, weil die angeblich entweder aggressiv oder sentimental würden, trotzdem schreie dieser ulkige Club geradezu nach einer ärztlichen Langzeitbetreuung.

An dieser Stelle – wäre man denn Landarzt und säße in der Marktschänke – meldete sich der Straußenzüchter Winkler von hinten an der Theke zu Wort: Er, Winkler, machte geltend, dass nur 75 von den ganzen Arbeitslosen landarzttaugliche Allgemeinmediziner seien – und davon wären 52 Frauen, die meist in Familien lebten und kaum wegziehen könnten. So stünde es in der Lokalzeitung. Und der Sparkassenfilialleiter lachte laut auf: Er liebte solche frauenfeindlichen Witze, besonders mit Zahlen hinterfütterte. Und wir ließen ihn gewähren. Allein, in diesem Fall würde sich Winkler geirrt haben, denn es hätten sich auch schon ein paar arbeitslose Medizinerinnen auf die verwaiste Landarztpraxis beworben. Ach, wäre man doch bereits ein lediger Landarzt! Winkler gäbe jedoch keine Ruhe, denn er würde noch eine weitere Geschichte in petto haben: Ein mit ihm verschwägerter Förster hätte gerade einen Brief von seiner vorgesetzten Dienststelle bekommen – des Inhalts, dass er als deutscher Beamter gewisse Klassenetiketten, man sprach von Vorbildfunktion, zu beachten habe, weswegen er fürderhin nicht mehr bei Aldi einkaufen dürfe. Punktum. Da seien sie aber bei ihm, dem verschwägerten Förster, an den Falschen geraten, denn der wies ihnen sofort seitenlang nach, dass gerade Aldi die hochwertigsten Waren des täglichen Bedarfs führe, nur dass man sie nicht eben leicht als Markenartikel identifizieren könne. Namentlich die Aldiweine genössen selbst bei Kennern große Wertschätzung. Deswegen hätte er vor den Regalen wiederholt adlige Waldbesitzer angetroffen sowie auch Förster aus den fürstlichen Rentämtern – von drüben, wie er hinzufügte, wohl wissend, dass seine Vorgesetzten ebenfalls allesamt aus dem Westen rübergemacht hätten …

In die Winkler’sche Kunstpause hinein würde sich daraufhin wieder der Sparkassenfilialleiter an einen wenden: Als Landarzt wäre man ja wohl diesbezüglich fein raus, denn hierbei zähle doch nur die Praxis. Und der Sinn des Lebens flöge einem dabei nur so zu – wie die Schatten der Alleebäume, unter denen man zu den Hausbesuchen brause. Man erführe dazu noch alles aus erster Hand, und anders als etwa der Allianzvertreter müsste man sich nicht groß darum bemühen, am Küchentisch Platz nehmen zu dürfen. Im Gegenteil: Der sich nun zur Ruhe setzende Landarzt in Temnitz hätte sogar lange Zeit vergeblich versucht, alle Küchentische zu meiden. Am liebsten wären ihm deswegen die Adventisten und Brüdergemeinen unter seinen Patienten gewesen, denn die hätten ihn höchstens mit Lindenblütentee bei seinen Visiten traktiert. HELMUT HÖGE