: Tabaksteuer macht Kinder ärmer
Gesellschaftspolitik in Deutschland: Niemandem fällt auf, wenn gänzlich unverbundene, ja sogar widersprüchliche Forderungen und Ziele friedlich nebeneinander stehen
War die Erhöhung der Tabaksteuer nicht ein wunderbares Beispiel dafür, dass politischer Streit nicht sein muss und dass es so etwas gibt wie objektiv vernünftige Maßnahmen? Kaum hörbar waren Argumente, die gegen die überproportional hohe Verteuerung von Zigaretten vorgebracht wurden, und sie bewegten sich fast ausschließlich im vertraut engen, konjunkturpolitischen Rahmen. Im Großen und Ganzen herrschte Übereinstimmung darüber, dass Tabak gar nicht teuer genug sein kann. Achachach ja, seufzten sogar Kettenraucher. Man wisse um die Schädlichkeit des eigenen Verhaltens. Der Rest einer bigotten, selbstgefälligen Gesellschaft applaudierte und befand, die Betroffenen seien selber schuld. Sie sollten halt ein bisschen Disziplin aufbringen. Ganz so, als gebe es keinerlei Erkenntnisse über die komplexen Probleme der Suchtbekämpfung – und als sei Armutsforschung hierzulande eine völlig unbekannte Disziplin.
Dabei sind die Ergebnisse zahlreicher Studien in verschiedenen Ländern völlig eindeutig. Arbeitslose und arme Männer und Frauen rauchen überdurchschnittlich häufig und geben unterdurchschnittlich selten das Rauchen auf. Nachweislich falsch ist die weit verbreitete Meinung, der Konsum von Tabak und Alkohol werde über das Einkommen so gesteuert, dass diejenigen, die am wenigsten verdienen, auch am wenigsten konsumieren. Im Gegenteil: Langzeitarbeitslose Jugendliche beiderlei Geschlechts gehören ebenso wie ihre Altersgenossen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, zu den Gruppen, bei denen ein besonders hohes Risiko intensiven Nikotinkonsums besteht. So viel zu der Behauptung, die Erhöhung der Tabaksteuer sei als Maßnahme der Suchtprävention gerade für Jugendliche geeignet.
Eine andere Statistik besagt, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut lebt: Rund eine Million Kinder und Jugendliche beziehen Sozialhilfe. Legt man die Ergebnisse beider Untersuchungen übereinander, dann lassen sie nur einen Schluss zu: Die Erhöhung der Tabaksteuer wird dazu führen, dass ausgerechnet in vielen jener Familien, in denen das Geld besonders knapp ist, ein noch größerer Prozentsatz des Einkommens als bisher in Rauch aufgeht. Man kann das verurteilen. Aber leider führt das beruhigende Gefühl der Mehrheit, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, nicht automatisch zu messbaren Erfolgen bei der Drogenbekämpfung.
Wenn Zigaretten teurer werden, dann verschärft sich also das Problem der Kinderarmut. Die Tatsache, dass dieser Zusammenhang einer breiten Öffentlichkeit nicht sofort vor Augen steht, bedeutet nicht, dass er Fachleuten unbekannt ist. Woran liegt es, dass der Aspekt in der Diskussion über die Erhöhung der Tabaksteuer überhaupt keine Rolle gespielt hat? Die Bundesregierung braucht wohl allzu dringend Geld, um auf derartige Überlegungen noch Rücksicht nehmen zu können oder zu wollen. Schließlich sollen sich gar nicht so viele Leute das Rauchen abgewöhnen – die steuerlichen Einnahmeverluste wären allzu hoch. Unter anderem deshalb wird die geplante Preiserhöhung ja auch nicht auf einmal, sondern stufenweise vollzogen – eine in gesundheitspolitischer Hinsicht besonders überzeugende Maßnahme.
Das erklärt aber nicht, weshalb auch die Opposition es versäumt hat, auf die sozialen Folgen der Teuerung hinzuweisen. Hier kommt ein anderer Gesichtspunkt hinzu. Das Argument, die Erhöhung der Tabaksteuer verschlechtere die Lage von unterprivilegierten Kindern, zielt nämlich auf Beharrung, nicht auf Verbesserung. Bliebe der Preis für Zigaretten unverändert, dann bedeutete das ja nicht, dass es den Kindern deshalb besser ginge. Es ginge ihnen nur nicht schlechter. Das reicht offenbar nicht mehr. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg immer weiter um sich greift, hat eine – im nicht parteipolitischen Sinne gemeinte – konservative, also bewahrende Politik in den Augen der Akteure jede Strahlkraft verloren.
Mit dem Slogan „Keine Experimente!“ ließen sich heute keine Wahlen mehr gewinnen. Über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg besteht weitestgehende Einigkeit darüber, dass Modernisierung ein Wert an sich ist, ebenso wie Flexibilisierung – was immer darunter zu verstehen ist. Die Begriffe sind zu Axiomen geworden, und Axiome müssen weder inhaltlich definiert noch dürfen sie in Zweifel gezogen werden. Die Folgen sind dramatisch: Je mehr die politische Diskussion von Axiomen beherrscht wird, desto weniger fällt auf, wenn gänzlich unverbundene, ja sogar widersprüchliche Forderungen und Ziele friedlich nebeneinander stehen.
In diesem Zusammenhang ist die Erhöhung der Tabaksteuer bei gleichzeitiger Bekämpfung der Kinderarmut nur eines von vielen Beispielen. Fast niemand bestreitet noch, dass es gerecht und auch geboten sein kann, Arbeitslosen einen oder notfalls gar mehrere Umzüge zuzumuten, um sie in Lohn und Brot zu bringen. Unstreitig ist außerdem, dass es wünschenswert wäre, die Geburtenzahl zu steigern, das Engagement der Bürger für die Belange ihrer Kommunen und der Gesellschaft zu stärken.
Beide Behauptungen sind nachvollziehbar und mögen sogar richtig sein. Nur vereinbar sind sie nicht. (Bitte jetzt keinen Hinweis darauf, dass in den USA der hohe Grad der Mobilität dem Einsatz der Bevölkerung für das Gemeinwohl nicht entgegensteht! Deutschland ist keine Pioniergesellschaft.) In der Bundesrepublik handelt niemand unvernünftig, der kein Haus bauen und keine Familie gründen will, wenn er nicht auf die Tragfähigkeit sozialer Bindungen und langfristiger finanzieller Planung bauen kann. Die politische Diskussion erweckt den Eindruck, das Einzige, woran es hierzulande fehle, sei Geld. Schließlich wird inzwischen nahezu jedes Thema fast ausschließlich unter finanziellen Gesichtspunkten diskutiert. Dieser Blickwinkel ist erschreckend eng.
Was tatsächlich fehlt, ist eine allgemeine Diskussion über die Gesellschaft, in der wir leben wollen. In den letzten Jahren sind alle Forderungen nach einer solchen Diskussion allzu oft mit dem Begriff der „Vision“ verbunden worden: zukunftsweisend also und unerbittlich modern. Geht es ein bisschen bescheidener? Es wäre doch schon ein großer Fortschritt, wenn den Äußerungen führender Politiker anzumerken wäre, dass sie eine Vorstellung von der Gesellschaft haben, an deren Bau sie mitwirken. Eine Vorstellung ist etwas anderes als eine Vision.
Man stelle sich vor, die Leitfrage der politischen Diskussion bestünde in der Überlegung, wie die Lebensbedingungen jener Mehrheit der Bevölkerung beschaffen sein müssen, deren privates Lebensglück weder durch eine steile Karriere noch durch ein hohes Einkommen definiert wird. Mag sein, dass die Senkung der Lohnnebenkosten nach wie vor hohe Priorität genösse und auch die Erhöhung der Tabaksteuer deshalb richtig erschiene. Aber die daraus folgende Veränderung des Blickwinkels zöge zweifellos interessante, neue Diskussionen nach sich. Sie sind überfällig. BETTINA GAUS