: Das Jahr der weinenden Männer
Nicht nur wegen des Werder-Abstiegs wird 2009 kein Auge trocken geblieben sein: Die taz verrät im vorauseilenden Jahresrückblick, welche Schocks und welche Glücksmomente Bremen erwartet
VON BENNO SCHIRRMEISTER, JAN ZIER UND FELIX ZIMMERMANN
2. Januar: Im Werder Bremen Presseraum verkündet Trainer Thomas Schaaf seinen Abschied. „Den nun eingeschlagenen Weg kann ich so nicht mehr mitgehen“, sagt er mit belegter Stimme.
5. Januar: Mit gelöstem Lächeln präsentiert dagegen Klaus Allofs drei Tage später „eine Grobskizze des angeschobenen Radikalwandels“. Er habe „seit dem 20. Dezember unablässig Gespräche geführt“, so der Teammanager. Letztlich sei es ihm dabei gelungen, den gesamten Kader zu verkaufen. „Ein bisschen Wehmut ist schon dabei“, gesteht Allofs, man wolle aber „dahin, wo Hoffenheim jetzt ist“. Und das verlange eben Opfer. Schaaf-Nachfolger ist Peter Neururer.
6. Januar: Der seit Jahresbeginn unauffindliche Radio Bremen-Intendant Heinz Glässgen meldet sich per Liveschaltung aus Rom. Bei einer Privataudienz habe er sich „Ratschläge auch für meine, vor allem aber die Zukunft von Radio Bremen geben lassen“, teilt er mit. „Über Inhalte muss ich indes derzeit schweigen.“
13. Januar: Wirtschaftssenator Ralf Nagel stiehlt Christian Weber die Schau beim Neujahrsempfang der Bürgerschaft. Weber gerät ins Stottern, als Nagel, in einen abgetragenen Armeemantel gehüllt, auf dem Haupt eine Mao-Kappe und dicht behängt mit Kunstperlenketten, Arm in Arm mit seiner Lebensgefährtin sowie einer dünn bekleideten Referatsleiterin in dessen Ansprache platzt. Mehrfach und zur großen Erheiterung seiner Entourage unterbricht der Senator die Rede durch lautstarken Beifall. Den Hinweis Webers, die Städte Bremen und Bremerhaven hätten „einiges zu bieten“, ergänzt Nagel mit dem seltsam betonten Zwischenruf: „Und eini-gé, und eini-gé!“. Webers Mahnung, das Land dürfe sich „keineswegs“ ständig verstecken, quittiert Nagel mit einem kehligen: „Jawoll!, Was de Leut sagge, hent uns ja nimmer net geschert!“ Als Weber daraufhin in einen Heulkrampf verfällt, grüßt Nagel jovial ins Rund, sagt: Den Wirtschaftskrams könne künftig ja der Heseler Heini allein stemmen und zieht von dannen.
2. Februar: Anders als die überregionale Presse produziert der Weser-Kurier keinen Marie Antoinette-Verriss. Vielmehr gibt Lars Haider seinen Einstand als Chefredakteur und kündigt in einer Rede an die Mitarbeiter eine umfassende Blattreform an. Er, Haider habe deshalb, „um ein Zeichen zu setzen“, selbst die Besprechung der Marie-Antoinette-Premiere übernommen. „Damit alle sehen, hier kommt ein Chef, der packt mit an.“ Die Kulturredaktion äußert Bedenken, dass ein ganzseitiges Interview mit Theaterintendant Hans-Joachim Frey nicht dieselbe Funktion wie eine Kritik erfülle. „Da bin ich ganz bei Ihnen“, lässt Haider sie wissen. „Wir wollen nämlich keine Zeitung der Miesmacher sein, sondern eine, in denen die Macher zu Wort kommen.“
5. Februar: Im Kurzinterview „heute in bremen“ preist Theaterintendant Frey „Restkontingente“ für die abendliche Marie Antoinette-Aufführung an. Zugleich räumt er ein, die Taktzahl der Performances reduzieren zu müssen. „Unsere Public-Resonance-Prognose war zu optimistisch“, sagt er. „Schließlich war es uns nicht möglich, in der Recruitement-Planning-Phase die Folgen der globalen Finanzkrise abzuschätzen.“ Durch die habe es „gerade die kreativ-innovative Avantgarde schwer“, zumal ja die Audience ein tragender Akteur sei. Es werde aber auch im März noch „deutlichen Creative Output“ geben. Immerhin seien alle Rollstuhlplätze im Februar schon vergeben, wenigstens für die Evening-Shows.
6. Februar In der Staatlichen Kunstsammlung Karlsruhe eröffnet Baden-Württembergs Kulturminister Peter Frankenburg die Renaissance-Ausstellung mit Werken aus der Bremer Kunsthalle. In seiner Rede lobt er „den Reichtum Bremens“, an dem „nun auch der Süden teilhat, als seine angestammte Heimat, in die er nun zurückkehrt.“
27. Februar: Beim Heimspiel gegen die Bayern gelingt dem neuen Werder-Team ein Coup. Den glatten 3 : 0-Sieg feiert Justizsenator Ralf Nagel mit fünf Bremer Richterinnen und zwei Staatsanwältinnen nebst sechs Flaschen Taittinger Brut in der Ehrenloge. Tags darauf gibt er bekannt, die Aufgaben als Justizsenators künftig ganz von Matthias Stauch erledigen zu lassen. Der habe sich ja schon „in dr Knascht-Frage bewährt“, und ohnehin den besseren Durchblick, „wänigschtens in dr Jurischterei“, so Nagel. „Lassts die schaffe, dieschs kennet, saggt mer bei uns“, fügt er hinzu. Dabei kräuselt der Senator mit dem rechten Zeigefinger eine Locke seines Haupthaars.
5. März: Hans-Joachim Frey gibt eine Pressekonferenz im Musical-Foyer. Er müsse alle weiteren Marie-Antoinette-Vorstellungen leider absagen, wegen „der Indisposition eines tragenden Akteurs“, sagt er mit vernehmlichem Schlucken. „Die im Vorverkauf erworbene Eintrittskarte wird aber vollumfänglich erstattet“, verspricht er.
9. März Bild-Bremen berichtet exklusiv über Ralf Nagels Geburtstagsparty. Die erste Homestory aus dessen neuen Domizil am Krähenberg trägt den reißerischen Titel „Sex-Orgie beim Senator“.
10. März: Nagel geht in die Offensive: „Bei mir herrscht das Lustprinzip“, schlagzeilt Bild-Bremen. Im Interview erläutert er die Gründung der „Kommune 2“, was die freie Liebe für ihn bedeute, wann Josef Hattig eingezogen sei und warum er auch das Hafenressort ruhen lässt. „Ich übernehm dafür die Wissenschaft“. Renate Jürgens-Pieper habe bereits eingewilligt.
20. März: Mit der achtseitigen Themenbeilage „Primel-Spezial“ feiert der Weser-Kurier die Vollendung der Blattreform. „Vor allem freut mich“, erläutert Chefredakteur Lars Haider, „dass uns die inhaltliche Neubestimmung so geglückt ist.“ Die neuen Ressorts hießen „Was uns blüht“, gewidmet dem weiten Feld der Balkonpflanzen, es folge „die Sorgenseite, auf der unsere Leser mitteilen, was sie bewegt“, die Abteilung Heimtiere, ein Fitness- und ein üppiger Lokalgeschichts-Teil.
4. April: Riesenfest auf dem Teerhof. Denn: Der Beluga-Neubau wird eröffnet. Für Aufsehen sorgt die Fassadengestaltung durch ein Videoloop, das Reeder Niels Stolberg abwechselnd in Total- Halbtotal und Supernahaufnahme zeigt. Zudem wundern sich Beobachter über die auf dem Dach des – wie ein Schiff gestalteten – Gebäudes installierten Sonarkanonen.
16. April: Nur einen Monat nach Vorlage durchs Bremer Verwaltungsgericht urteilt das Bundesverfassungsgericht im Makaken-Streit. Tenor der mit detaillierten Auflagen ausgestatteten Entscheidung: Zwar obsiege das Grundrecht Forschungsfreiheit übers Staatsziel Tierschutz, aber unter der Auflage, dass die Affen befragt werden müssen, da sich „Sachverständige aus Deutschland, der Schweiz und Frankreich gutachterlich eindeutig zur Kommunikationsfähigkeit der betreffenden Makaken-Art geäußert haben“. Um den Tieren eine freie und individuelle Meinungsbildung zu ermöglichen, sei ihnen Zugang zu anderen „sowohl natürlichen Habitaten etwa in Indien und auf Mauritius als auch zu künstlichen Biotopen, wie sie durch zoologische Gärten bereitgehalten werden zu gewähren“. Während Tierschutzpräsident Wolfgang Apel wissen lässt, er sei „erleichtert, aber auch etwas überrascht“, geben sich Uni und Neurobiologe Andreas Kreiter „überrascht, aber auch etwas erleichtert“.
19. Mai: Der Bremer Polizei gelingt ein sensationeller Präventivschlag, indem sie 14 Reisebusse noch auf der A 1 stoppt, die knapp 1.000 Insassen zum Aussteigen zwingt, einkesselt und in Gewahrsam nimmt. „Es war ein großer Schlag gegen eine Veranstaltung, die unsere Stadt nicht hätte verkraften können“, rechtfertigt Eckard Mordhorst die Maßnahme. „Die hatten alle so komische lila Tücher um“, zudem hätten sie skandiert: „Mensch, wo bist du“, sprich: Sie hätten nach Leuten gesucht, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
24. Mai: Mit 120.000 Kirchentagsbesucherinnen feiern die Bremer ihre Werder-Mannschaft, die von der Auswärtsniederlage in Wolfsburg zurückgekehrt, auf dem Rathausbalkon eine rote Laterne schwenkt. „Es ist der triumphalste Abstieg aller Zeiten“, sagt Trainer Neururer. Drei Punkte aus der Rückrunde seien „zwar wenig, aber nicht nichts“. Manager Klaus Allofs freut sich, „dass das Werder-Feeling endlich mal dem Zustand der Stadt entspricht“.
19. Juni: Bei der 326. Tagung der Kultusministerkonferenz gibt deren amtierender Präsident Henry Tesch den Mehrheits-Beschluss des Gremiums bekannt, nach dem die 200 unter dem Titel „Noble Gäste“ entliehenen Werke der Kunsthalle Bremen in den Gastgeberländern zu verbleiben hätten. Über eine Rückgabe könne man laut Tesch „in Einzelfällen nachdenken – sobald Bremen schuldenfrei ist“. Die Vorhaltung, dass die Werke nicht Eigentum des Stadtstaates, sondern des Kunstvereins seien, kontert Tesch trocken: „Das ist uns sowas von egal.“
22. Juni: In einem Kommuniqué zum „Kunsthallen-Vorfall“ lässt Böhrnsen wissen, „dass kein Anlass für aufgeregte Diskussionen“ bestehe. „Wir sind fest entschlossen, den Vorgang zu prüfen, der auch günstige Auswirkungen für Bremens Verhandlungsposition beim Länderfinanzausgleich haben könnte“.
14. Juli: Heinz Glässgen gibt bekannt, Radio Bremen ab 1. Oktober wirklich nicht mehr als Intendant vorstehen zu wollen. Er gehe zwar „mit einer Träne im Knopfloch“, aber er gehe. Wohin werde man schon noch merken.
25. August: Die Konrad Adenauer Stiftung übergibt ihren Lokaljournalismus-Preis an Weser-Kurier-Chef Lars Haider. Er habe sich „in kürzester Zeit als Manager des Optimismus profiliert“, heißt es. Besonders lobenswert seien Serien mit Leserbeteiligung wie „Zeigt her Eure Kanarienvögel“, bei der „mehr als 1.000 Abonnenten Fotos von ihren Piepmätzen eingesendet haben, die nun durch liebevoll verfasste Features gewürdigt werden“. Rathausreporter Wigbert Gerling lässt sich beurlauben.
10. September: Die Makaken sind zurück. Völlig verblüfft begrüßt Andreas Kreiter die Tiere, deren Sprecher Versace ankündigt, man habe sich „für Bremen und die Hirnforschung“ entschieden. Empört erkennt Wolfgang Apel daraufhin den Kreiter-Affen ihren Tierstatus ab. Der ungerührte Versace weist die Uni darauf hin, dass „über die Bedingungen zu reden sein wird“. Kreiter akzeptiert den vom Makaken-Plenum ausgearbeiteten Tarif-Vertrag. Unter anderem sieht er eine erhöhte Apfelsaftdosis vor und das Recht zwischen Campus-Gehege und externem Logis zu wählen. Versace selbst entschließt sich, in die Krähenberg-Kommune zu ziehen. Nagel lässt daraufhin das Amt des Wissenschaftssenators ruhen.
28. September: Nachdem Carsten Sieling bei der Bundestagswahl das Direktmandat errungen hat, tritt die SPD-Fraktion zusammen, um einen neuen Vorsitzenden zu küren. Gewählt wird Martin Günthner. Der sei zwar keine Frau, komme aber aus Bremerhaven, erläutert der neue Fraktionssprecher Wigbert Gerling den Vorgang. Den Vorsitz der Fraktion in der Stadtbürgerschaft solle Sükrü Senkal übernehmen, der „als Arbeiter mit migrantischem Hintergrund gleich für zwei Minderheiten spricht“. Annegret Ahlers von der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen“ äußert Enttäuschung aber auch Zuversicht: „Das heißt, dass der nächste Posten bestimmt uns gehört“.
1. Oktober: Klaus Wolschner ist neuer Radio Bremen-Intendant. Seine Amtseinführung gerät allerdings durch eine gut 1.200 Kilometer weiter südlich bekannt gegebene Personalie in den Hintergrund: Papst Benedikt präsentiert einen Laien als neuen Generaldirektor von Radio Vatikan. Professor Heinz Glässgen kündigt an, „neue Wege im Rebroadcasting“ zu beschreiten. Vor allem freue er sich, dem Vatikan einen „Zugriff auch auf Frequenzen in der deutschen Diaspora“ gesichert zu haben.
2. Oktober: Wolschner entdeckt beim Umbau des Intendanten-Büros einen Geheimvertrag zwischen Radio Bremen und dem Vatikan. Das beiderseits ratifizierte Dokument schreibt eine zehnjährige Kooperation zwischen Landesrundfunkanstalt und Kirchensender fest. Ab November 2009 werde Radio Vatikan den Bremern Inhalte zu Verfügung stellen, darunter jährlich einen Tatort mit Bruder Tacke als Kommissar. Im Gegenzug verpflichtet sich Radio Bremen, das Geburtstagskonzert des Papstes, die Oster- Weihnachts- und Pfingst-Liturgie im Rundfunk auf Nordwestradio live zu übertragen. Außerdem ist die Produktion weiterer Folgen der Gesprächszeit mit Eugen Drewermann zu unterlassen. Bei Zuwiderhandeln drohe eine Strafzahlungen in Millionenhöhe. „Egal“, sagt Wolschner, „ich war immer schon Fan von Kooperationen.“
3. Dezember: Die Zeitschrift politik und kommunikation gibt bekannt, dass mit Ralf Nagel erstmals ein Landesminister den Titel „Politiker des Jahres“ erhält. Der Senator ohne klare Aufgaben habe „auf herausragende Weise bewiesen, dass Politik und Privatleben einander nicht ausschließen“, begründet die Jury ihre Wahl. Nagel, der sein mittlerweile schulterlanges Haar in einem Pferdeschwanz gebändigt trägt, nimmt die Auszeichnung unter Freudentränen entgegen. „Mein Leben ist ein einziger Kampf gegen das Spießertum“, vertraut er den Festgästen an.
30. Dezember Eine Piraten-Schnellboot-Truppe fährt einen Angriff aufs Beluga-Bauwerk. Der Wasserschutzpolizei gelingt es zwar, die Übeltäter ins Meer zurückzutreiben, dennoch liegt die Reederei-Zentrale danach in Schutt und Asche. „Es ist kein Schuss abgefeuert worden“, so Wasserschutzpolizei-Direktor Ulrich Tetzlaff. Es habe aber bei der Abwehrfunktion „ein technisches Problem gegeben.“ Auf beharrliches Nachhaken des taz-bremen-Feiertagsdienstes räumt Reeder Niels Stolberg schluchzend ein, dass es wirklich an den rein defensiven Sonarkanonen gelegen haben könnte. Diese seien nämlich „nach hinten losgegangen“.
31. Dezember: Ulrike Hauffe blickt kritisch auf „ein zugegeben turbulentes Jahr“ zurück, dass, so die Landesfrauen-Beauftragte, „auch positive Aspekten gehabt“ habe. Das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Fragen des Gender-Proporzes Rückschritte gab: „2009 war ein schlechtes Jahr für die Frauen“, sagt sie, „wenigstens in der Gesamtschau.“