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Archiv-Artikel

„Die DDR war ein suizidales System“

Aus dem Innern der Staatssicherheit: Der Dokumentarfilm „Aus Liebe zum Volk“ beruht auf den Aufzeichnungen eines Stasioffiziers – und Archivbildern. Ein Gespräch mit den Filmemachern Eyal Sivan und Audrey Maurion über Kontrollzwang, Archivmaterial und die Ästhetik der Überwachungskameras

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Frau Maurion, Herr Sivan, Ihr Film „Aus Liebe zum Volk“ beruht in erster Linie auf Archivmaterial. Bei Ihrem Film über den Eichmann-Prozess, „Ein Spezialist“, sind Sie ähnlich vorgegangen, und auch bei „Itsembatsemba – Rwanda, One Genocide Later“ haben Sie nicht selbst gedreht. Woher rührt Ihr Interesse an Archivbildern?

Eyal Sivan: Daher, dass das Archiv ein Symbol für die Dialektik des Kinos ist. Im Dokumentarfilm bedeutet die Verwendung von Archivmaterial das Gegenteil von Rekonstruktion. Im Spielfilm bedeutet Rekonstruktion, dass man mit Kostümen und Sets einen Raum schafft. Im Gegensatz dazu haben wir Eichmann in der Rolle Eichmanns und S. in der Rolle von S. …

dem Stasioffizier, dessen im Februar 1990 verfasste Notizen die Grundlage für den Text Ihrer Dokumentation bilden.

Sivan: Und das berührt die Frage der Erinnerung. Es war Goethe, der sinngemäß sagte, wenn er das Wort Erinnerung höre, dann frage er sich, was vergessen worden sei. Wenn ich ein Bild sehe, dann frage ich mich: Was ist nicht auf dem Bild? Mit Hilfe der Montage versuche ich, ins Bild zu rücken, was jenseits des Bildausschnitts liegt.

Diese Dialektik von Erinnern und Vergessen, von Zeigen und Auslassen ist die eine Seite. Was aber, wenn ein Archiv so viel Material enthält, dass der Überblick unmöglich wird?

Sivan: Das genau ist es, was Erinnerung bedeutet: Auswahl. Das Speicherprinzip des Computers bedeutet Anhäufung, die Erinnerung des Menschen hingegen funktioniert über Auswahl. Archiv heißt: Alles ist da, aber nur wenig ist zugänglich. Wir haben es mit einem Paradox zu tun. Dass Bildmaterial in einem Archiv existiert, heißt nicht, dass es existiert. Es ist zunächst nur ein Bilderlager, und erst wenn wir damit arbeiten, wird es zum Archiv. Doch davon müssen wir die Archive erst überzeugen. Wir arbeiten ja nicht gegen sie, sondern sind Teil des archivarischen Systems.

Sind denn die Archive Ihrer Arbeit gegenüber feindselig eingestellt?

Sivan: Natürlich! Immer!

Warum?

Sivan: Weil sie nicht begreifen, was ihre Rolle sein sollte. Sie haben den Auftrag, das Material in einem guten Zustand zu bewahren. Sie sehen ihre Aufgabe nicht darin, dafür zu sorgen, dass das Material Zuschauer findet.

Audrey Maurion: Oft wird das Archiv als heilig wahrgenommen. Damit kann ich nichts anfangen. Für mich ist das Archiv ein Werkzeug. Wir können es nutzen, um etwas zu vermitteln. Das Archiv garantiert überdies Authentizität und Kontinuität. In „Aus Liebe zum Volk“ haben wir das Material nicht manipuliert: Wir haben keine Spezialeffekte benutzt, nur die Montage, denn mit der Montage können wir Gedanken hervorbringen und das Archiv neu interpretieren.

Es ist recht üblich, Zeitlupe oder Farbeffekte einzusetzen, wenn mit historischen Aufnahmen gearbeitet wird. Kam Ihnen so etwas in den Sinn?

Maurion: Wir arbeiten mit Farboptimierung und anderen Methoden, um die Qualität der Bilder zu verbessern. Immerhin ist es ein Kinofilm, und manche Bilder waren in so schlechtem Zustand, dass man sie sich nicht hätte anschauen wollen. Aber wir verwenden keine digitalen Spezialeffekte …

Sivan: … und auch keine Sepiatönung. Es ist doch seltsam: Es gibt diese Vorstellung, dass das Archivmaterial laut rufen soll: „Ich stamme aus der Vergangenheit.“ Um diesen Effekt zu erreichen, bekommen die Bilder die Sepiafärbung verpasst, oder sie werden absichtlich in einem miesen Zustand belassen. Das ist Unsinn. Denn als diese Aufnahmen gefilmt wurden, hatten sie weder einen Sepiaton, noch waren sie zerkratzt oder dergleichen. Es gibt keinen Grund zu sagen: „Das ist alt.“ Denn in dem Augenblick, in dem wir uns die Aufnahmen anschauen, sind sie gegenwärtig. Das ist das Motiv unserer Arbeit mit Archivmaterial: Wir wollen es in die Gegenwart herüberholen. Wir wollen eine Kontinuität zu unserer Welt aufzeigen, denn wir sind die Verlängerung, die Erben der Vergangenheit. Es gibt etwas Fürchterliches im politischen Denken: dass man an Brüche im Lauf der Geschichte glaubt.

Wie sind Sie denn zu den Bildern gekommen, die in „Aus Liebe zum Volk“ zu sehen sind?

Maurion: Zuerst haben wir mit dem Text gearbeitet und haben ihn – in einem ersten Montageprozess – gekürzt. Dann haben wir …

Sivan: … eine Art Drehbuch geschrieben …

Maurion: … und uns überlegt, welche Bilder wir uns zu dem Text vorstellen könnten. Unsere Beraterin, die deutsche Dokumentarfilmerin Cornelia Klauss, hat Archive angerufen und sich in Museen umgeschaut. Sie ist zum „Progress“-Verleih und zum Ex-Oriente-Lux-Archiv gegangen, hat Material von Polizei und Militär gesichtet – und natürlich war sie bei der Gauck-Behörde, die zu unserer Hauptbildquelle wurde. Wir haben das Material zunächst auf eine illustrative Weise mit dem Text kombiniert, um zu sehen, wie beides miteinander wirkt. Das war okay, und wir waren froh, dass es passte. Aber es reichte uns nicht.

Wir wollten die subjektive Perspektive der Hauptfigur. S. ist ja nie im Bild zu sehen, er ist immer hinter etwas: hinter einer Absperrung, einem Fenster, in einem Auto, wie losgelöst von den Szenen. Wir baten Cornelia Klauss, dazu passende Bilder zu finden. Das Verrückte dabei war, dass selbst die Home Movies viele Einstellungen enthalten, die von einer Überwachungskamera stammen könnten.

War es schwierig, an die Szenen von Verhören in der Stasi-Zentrale heranzukommen?

Sivan: Nicht die Verwendung war das Problem, sondern die Anonymisierung. Der Gauck-Behörde war es sehr wichtig, dass diejenigen, die verhaftet und verhört wurden, von uns anonymisiert wurden. Das hat einen bizarren Effekt. Auf den ersten Blick geht es darum, die Opfer zu schützen. Aber indem man ihre Gesichter hinter dem schwarzen Balken versteckt, akzeptiert man, dass sie Verdächtige sind.

Die Ausführungen von S. überraschen, weil sie so detailliert, so konkret sind.

Sivan: Das macht aus ihnen ein Zeugnis. Dieser Mann kommt aus dem inneren Zirkel der Macht. Er ist der Mann der Einzelheiten, der von den Details Besessene. Für uns war die entscheidende Frage: Wie kann man seine Perspektive wiedergeben?

Maurion: Dabei wollten wir nicht auf die bekannten Bilder zurückgreifen, sondern den Zuschauer überraschen. Der befindet sich ja in einer seltsamen Position: Er sucht S. unentwegt, aber er wird ihn nicht finden. Um die Verwirrung komplett zu machen, weiß er nie so genau, ob er die Aufnahmen einer echten Überwachungskamera sieht oder Bilder aus einem Experimentalfilm …

oder die Bilder heutiger Überwachungskameras. Warum setzen Sie die ein? Ist Überwachung durch die Stasi dasselbe wie Überwachung in Einkaufszentren?

Sivan: Unser Interesse an der Geschichte ist immer auch ein Interesse an der Gegenwart. Während wir an dem Film arbeiteten, tauchten neue TV-Programme wie „Big Brother“ auf, die mit Überwachungskameras und der Vervielfältigung von Bildern arbeiteten.

Nach dem 11. September entwickelte sich im politischen Diskurs eine Obsession für Überwachung und Kontrolle. Am Potsdamer Platz in Berlin sind überall Kameras, jeder nimmt sie hin. Ich werde überwacht, und ich weiß nicht, was mit diesen Bilder passiert und warum es passiert, ich habe darüber keine Kontrolle. Aber es geht uns überhaupt nicht darum, eine Analogie zu behaupten; wir wollten vielmehr die Analogie als Frage formulieren.

Im Film hat S., je mehr Bilder er sammelt, umso weniger Kontrolle – auch wenn er das Gegenteil glauben mag. Dabei zeigt „Aus Liebe zum Volk“ sehr detailliert, wie die Ausübung von Macht funktioniert. Es gibt etwas ganz Nüchternes, Funktionales, das mit dem Kontrollwahn von S. kontrastiert. Er ist ein perfekter Machtmensch, aber er ist zugleich wahnsinnig.

Sivan: Genau.

Was mich zu der Frage führt: Bedingen Machtausübung und Wahnsinn einander oder schließen sie sich aus? Für S., der doch immer alles richtig machen wollte, geht ja mit der Wende die Welt zugrunde.

Sivan: Darin liegt das Paradox der DDR: Man überwachte alles, man sah alles, aber dass die Wende kam, dafür war man blind. Nun ist das ist nicht nur eine Frage von Machteffekten, sondern auch eine des Mainstreams. Der schaut sich nämlich immer nur die Ränder an, nicht sich selbst. Dadurch verliert er die Urteilsfähigkeit und beginnt sich selbst zu zerstören – als Effekt einer paranoiden, kriminellen Macht.

Auf die Spitze getrieben wird dies heute in der Figur des Selbstmordattentäters: In ihr kommt es zur totalen Überblendung von Selbstzerstörung und der Zerstörung anderer. Wenn man so will, war die DDR ein suizidales System.

S. schreibt, dass an den Demonstrationen des Jahres 1989 viele Stasimitarbeiter teilnahmen, um die Demonstranten zu überwachen. Trotzdem waren sie Teil der Menge. Fast hat man den Eindruck, die Stasi habe gegen sich selbst demonstriert und so zu ihrer Abschaffung beigetragen.

Sivan: Man kann es auch andersherum sehen: S. ist ja kein Psychopath, sondern ein Normopath. Seine Obsession gilt der Normalität. Weil er zur Mehrheit gehören will, geht er eben auch immer mit der Mehrheit. Im Buch schreibt er einmal: „Alle reden über Demokratie, also gut, lass uns mitmachen.“