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Archiv-Artikel

Eine Stadt erinnert sich

Lange tat sich die niedersächsische Stadt Celle schwer mit ihrer NS-Vergangenheit. Nun liegt eine neue Studie vor, die das Massaker an KZ-Häftlingen vom 8. April 1945 untersucht – und erstmals Namen nennt. In Celle war das lange undenkbar

Die Namen der Direkt-Täter sind erstmals öffentlich, was lange undenkbar war. Schließlich lebten sie nach dem Krieg weiter in der Stadt.

VON LUKAS SANDER

Am 8. April 1945, kurz vor Kriegsende, geschah im niedersächsischen Städtchen Celle ein Verbrechen, mit dem sich die offizielle Stadtgeschichtsschreibung lange schwer tat. An diesem Tag griff die US-Airforce die bislang vom Bombenkrieg verschonte Stadt an. Im Güterbahnhof stand ein Zug, der mehr als 3.000 Gefangene aus mehreren Konzentrationslagern ins KZ Bergen-Belsen bringen sollte. Der Zug geriet in den Bombenhagel, viele Gefangene wurden dabei getötet. Auf die, denen die Flucht gelang, machte die SS Jagd, unterstützt von Soldaten, Polizisten – und Celler Zivilisten, also Freiwilligen. Hitlerjungen waren genauso dabei wie alte Männer vom Volkssturm.

Zu den Ereignissen vom April 1945, die als „Celler Hasenjagd“ in die Geschichtsbücher eingegangen sind, gibt es nun eine umfangreiche, strukturierte Studie: „Celle April 1945 revisited“ von dem Historiker Bernhard Strebel. Seit einigen Jahren gebe es „eine große Offenheit gegenüber der Geschichte des Nationalsozialismus in dieser Stadt“, berichtet Reinhard Rohde. Er ist einer der Celler, die sich seit den 1980er Jahren darum bemühen, die lokale NS-Vergangenheit ihrer Stadt aufzuarbeiten. Mehrmals im Jahr führen er und sein Mitstreiter Tim Wegener Stadtrundgänge zum Thema „Celle im Nationalsozialismus“ durch. Die Stadtrundgänge enden stets in den Triftanlagen, einem Park direkt am Bahnhof. Dort wird mit einem kleinen Mahnmal an das Massaker vom 8. April 1945 erinnert.

Dass es die „Hasenjagd“ gab, bei der nach den Erkenntnissen der jüngsten Studie mindestens 170 KZ-Gefangene ermordet wurden, war in Celle schon länger nicht mehr zu leugnen – der Umgang mit dem Thema aber war verkrampft. In den 1980er Jahren beschäftige sich eine Gruppe kritischer Gewerkschafter damit. „Das Thema war 40 Jahre lang völlig verdrängt worden“, sagt Reinhard Rohde, der schon damals zu den engagierten Cellern gehörte. Die Gruppe war auf wenige Aussagen von Zeitzeugen angewiesen, die das Massaker als Jugendliche miterlebt hatten.

So blieb das Bild der Ereignisse zwar diffus, dennoch zeigten die Bemühungen Wirkung. „Damit war die Tabuisierung durchbrochen“, schreibt der Historiker Mijndert Bertram. Bertram, bis 1999 Celler Museumsdirektor, hatte im Jahr 1989 im Auftrag der Stadt die Publikation „April 1945. Der Luftangriff auf Celle“ vorgelegt. Im Vergleich zu einer von einem ehemaligen Oberstadtdirektor verfassten Stadtgeschichte, in der das Massaker mit keinem Wort erwähnt wird, war diese Arbeit ein riesiger Fortschritt, auch wenn sie nicht frei von Fehlern ist. So übernahm der Historiker offizielle Zahlen aus Verwaltungsberichten der Stadt Celle, ohne sie auf Plausibilität zu überprüfen. Vor allem aber vermied es Bertram, die Täter des Massakers vom April 1945 beim Namen zu nennen.

In seiner Studie „Celle April 1945 revisited“ hat Bernhard Strebel Daten nachgeprüft und neu geordnet, neu zugängliche Quellen angezapft, Interviews geführt und mit zahlreichen Legenden aufgeräumt. Lange nicht zugängliche Akten eines Prozesses der britischen Armee nach Kriegsende brachten Neues, unter anderem zu den Verantwortlichkeiten der damaligen Stadtoberen. Generalmajor Paul Tzschöckell beispielsweise galt als strahlender Retter, der die Stadt den Alliierten friedlich übergeben hatte. Nun wird der Stadtkommandant als einer der Hauptverantwortlichen des Massakers entlarvt.

Bei dem Prozess der britischen Armee waren nicht etwa Fädenzieher wie Tzschöckell, sondern nur einige der so genannten Direkt-Täter verurteilt und nach relativ kurzer Haftzeit begnadigt worden. Ihre Namen sind nun erstmals öffentlich, was in Celle lange Zeit undenkbar war. Schließlich lebten die Täter nach dem Krieg weiter in der Stadt.

Bernhard Strebel hat auch genaue Zahlen und biografische Daten zu den Opfern herausgefunden: 3.420 waren demnach in dem KZ-Zug, 170 Gefangene wurden zu Tode gehetzt. Eine der zahlreichen Legenden gab es bezüglich der bei dem Bombenangriff getöteten Celler Bürger. 800 sollten es nach bislang offizieller Angabe gewesen sein. „Das ist eine Zahl, die sich durch nichts belegen lässt“, sagt Bernhard Strebel. Er hat Beerdigungsregister ausgewertet. Nun sei klar, „dass es 122 zivile Tote in Celle gegeben hat“.

Der Historiker entdeckte auch Beispiele von Hilfsbereitschaft in der Celler Bevölkerung. So seien in einem katholischen Krankenhaus verletzte Häftlinge aufgenommen worden. Darüber hinaus gebe es überlieferte Hilfsaktionen. Frauen hätten versucht, den Gefangenen Wasser zu geben und Erste Hilfe zu leisten.

Letzteres scheint den Umgang mit der Vergangenheit in Celle leichter zu machen: „Menschen inmitten der Barbarei“ nennt Celles Erste Stadträtin Susanne Schmidt (CDU) diese Helferinnen – für sie ein Zeichen der Hoffnung. Die neue Studie zeige, dass die Celler ihr Bild von den Geschehnissen zu Kriegsende korrigieren müssten. „Die Verbrechen von damals sind nicht zu verstehen“, sagt Schmidt.

Im November griff die CDU-Mehrheitsfraktion im Celler Stadtrat einen Vorschlag der Grünen auf, ein Dokumentationszentrum zur NS-Vergangenheit einzurichten. Die Zeiten, in denen Celle als „reaktionäres Nest“ galt, sind offenbar vorbei. Noch 1982 etwa hatte der damalige Oberbürgermeister Helmuth Hörstmann – selbst einst SS-Mann – Mitglieder der Veteranenvereinigung „Stahlhelm“ im Celler Schloss begrüßt. Der bis zum Jahresende amtierende OB Martin Biermann (CDU) dagegen hielt am Mahnmal in den Triftanlagen eine vielbeachtete Gedenkrede zu den Ereignissen in seiner Stadt im April 1945. Darin heißt es: „Der Satz ,Irgendwann muss doch mal Schluss sein‘ darf um der zukünftigen Generation Willen nie Wirklichkeit werden.“

In diesem neuen, offenen Klima kommt die Studie von Bernhard Strebel genau recht. „Sie könnte im Schulunterricht als Grundlage verwendet werden“, meint Reinhard Rohde. Bisher halten sich die Celler Lehrerinnen und Lehrer allerdings noch stark zurück, was die lokale NS-Geschichte betrifft. Pädagogen können die Stadtrundgänge zum Thema „Celle im Nationalsozialismus“ für ihre Klassen buchen. Das zweistündige Angebot kostet lediglich 30 Euro. Es wird aber äußerst selten genutzt.

„Celle April 1945 revisited“, Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte Band 38, Verlag für Regionalgeschichte, 19 Euro