Marter mit Spiritual

Anne Rudelbach und Antoine Effroy inszenieren in „74 Minuten“ auf Kampnagel einen Hit von Gavin Bryars

Dem stupiden Alltagstrott der Menge folgen Tod und AuferstehungUngläubiger Thomas leckt lediglich seine selbst gewähltenWunden

19.58 Uhr. Zwei Zuschauer tragen Blumensträuße zur Choreographie 74 Minuten von Anne Rudelbach und Antoine Effroy, uraufgeführt am Mittwoch auf Kampnagel. „Herzlich Willkommen“, tönt die Ansage in der Kampnagel-Halle, „die Aufführung wird, natürlich, 74 Minuten dauern.“ Und verrät damit kein Geheimnis. Denn die auf die maximale Spieldauer einer CD ausgerichtete Komposition Jesus‘ Blood Never Failed Me von Gavin Bryars stellt das musikalische Material für die Tanzperformance.

20:05 Uhr. Anne Rudelbach tanzt ihr „Solo“ auf das erste Drittel der Musik. Die mit Spannung erwartete Stimme eines alten Landstreichers – 1971 in London aufgenommen – klingt mal dumpf und zittrig, mal hell und klar. Während die tänzerischen Figuren zwischen, wie es heißt, „Müdigkeit und Ausdauer“ balancieren, rollen Bryars Harmonien stringent voran.

20:33 Uhr. Der zweite Teil beginnt: In „Menge“ laufen 21 Personen über die Bühne. Sie überholen sich, bleiben stehen, legen sich auf den Boden, stehen wieder auf. Sterben und auferstehen sie? Das Spiritual des alten Mannes legt religiöse Bezüge nah: „Jesu Blut hat mich niemals im Stich gelassen.“ Dem Alltagstrott der Menge folgen Tod und Auferstehung mit lachenden Gesichtern.

Dieser Gedanke setzt sich im dritten Part, einem Film, fort: Nahaufnahmen des menschlichen Körpers geben zuerst Rätsel auf. Wo drücken diese gemarterten Wirbel unter der Haut hoch? Wo formieren sich diese erotischen Windungen? In einer Totalen erkennt man eine Frau in der Hocke. Maria Magdalena in Trauer unterm Kreuz?

20:58 Uhr. Matthias Breitenbacher und Antoine Effroy betreten die Bühne zu einem „Duett“. Wie der ungläubige Thomas legt der Tänzer seine Finger in die Wundmale des Schauspielers und Erzählers. „Gestern bin ich dreimal in Hundescheiße getreten“, beginnt jener mit seiner Klage. Effroy illustriert den Hundehass des Sprechers mit kraftvollen, akribischen Bewegungen. Effroys Tänze und konzentrierte Stillstände füllen fünfzehn Minuten, während sich der Sprecher immer weiter in die Einsamkeit hineinsteigert. Schließlich entpuppt sich die ungläubige Geste vom Anfang als Lecken der Wunden.

Nach 74 Minuten ist wirklich Schluss. Applaus. Die choreographische Umsetzung von 74 Minuten bleibt jedoch rätselhaft. Die szenischen Ideen unterliegen der klaren (und meditativen) Struktur der Musik – einer Mischung aus Religion, objet trouvé und Minimalismus. Und die Astern, zum Glückwunsch auf die Bühne getragen, stehen nach dem Applaus noch unberührt in ihrer Vase. Christian T. Schön

nächste Vorstellungen: 23., 24.+29., 4. jeweils 20 Uhr, Kampnagel