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Archiv-Artikel

Ein Leben ohne Milch

Ein neuer Bluttest weist die genetisch bedingte Milchzuckerunverträglichkeit nach. Im Vergleich zu den bisher üblichen Verfahren ist der Test nicht nur sicherer, er hat auch weniger Nebenwirkungen

Wasserstoff wird freigesetzt, wenn die Laktose in den Dünndarm gelangt

VON SABINE HENßEN

Millionen Europäer und nahezu alle Asiaten können aufgrund ihrer genetischen Disposition Milchzucker, die Laktose, nicht im Darm aufspalten. Sie leiden an einer Milchzuckerunverträglichkeit (primäre adulte Laktose-Intoleranz, kurz LI genannt). Wird diese nicht erkannt und weiterhin Laktose verzehrt, die vor allem in Kuhmilch und daraus hergestellten Produkten vorkommt, sind erhebliche Verdauungsbeschwerden und eingeschränkte Lebensqualität die Folge. Die Laktose-Intoleranz ist keine Krankheit, sondern eine genetisch bedingte Stoffwechselveränderung und kann jetzt zweifelsfrei mittels eines Bluttests nachgewiesen werden.

Gehört man zum Personenkreis der Laktose-Vertragenden, wird der Milchzucker durch das im Dünndarm produzierte Enzym Laktase aufgespalten und kann vom Darm absorbiert werden. Herrscht aber Laktase-Mangel oder wird das Enzym überhaupt nicht im Körper gebildet, gelangt der Milchzucker unverändert oder nur teilweise aufgespalten in den Dickdarm, wo er zum Nährboden für Bakterien wird – Bauchschmerzen und Verdauungsprobleme sind die Folge. Diese Laktose-Intoleranz, die in der Regel zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr erstmals auftritt, ist nicht heilbar und begleitet die Betroffenen ein Leben lang.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich während der Eisenzeit (um 800 v. Chr.) der genetische Unterschied herausgebildet hat, der einen Teil der Menschheit zu Laktose-Spaltern machte. In Regionen, in denen Milchwirtschaft und Milchprodukte einen hohen Stellenwert hatten, setzten sich im Laufe der Evolution offenbar jene Menschen durch, die Laktose – dank ihrer genetischen Veränderung – auch nach der Säuglings- und Kleinkindphase besser vertrugen.

Heute wird die Verbreitung der Laktose-Intoleranz in Zentraleuropa bei 10 bis 25 Prozent angesiedelt. „Sie betrifft in Österreich 20 bis 25 Prozent der Menschen, in Frankreich 40 Prozent, in Schweden hingegen nur 3 Prozent“, so Barbara Obermayer-Pietsch, Professorin an der Universitätsklinik Graz.

Ein deutliches Nord-Süd-Gefälle ist auszumachen. In Deutschland sind schätzungsweise 5 bis 10 Prozent der Bürger betroffen. Bertram Wiedenmann, Spezialist für Magen- und Darmkrankheiten an der Berliner Charité nimmt an, dass die Dunkelziffer viel höher liegt, da die Beschwerden individuell und unterschiedlich stark auftreten. Viele Betroffene litten zwar, suchten aber nicht den Arzt auf.

Die Symptome – Übelkeit, Blähungen, Durchfall –, die von den Kuhmilchprodukten verursacht werden, sind individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Auch unspezifischere Magen-Darm-Beschwerden und anhaltende Müdigkeit können auf eine Laktose-Intoleranz hindeuten. Lange Zeit wurden Beschwerden der Patienten nicht ernst genommen, Kuhmilch als Auslöser von Unwohlsein geriet nicht in das Visier der Mediziner.

Bis heute sind in Deutschland nur indirekte Tests Standard, um die Unverträglichkeit nachzuweisen. Am weitesten verbreitet ist der H2-Atemtest. Er misst die Höhe des Wasserstoffgehalts in der Atemluft. Wasserstoff wird im Darm freigesetzt, wenn die Laktose unverdaut in den Dünndarm gelangt. Die Diagnose dauert etwa vier Stunden. Der Patient muss Milchzucker in Wasser gelöst trinken. Anhand der Menge des abgeatmeten Wasserstoffs erkennt man, ob Milchzucker abgebaut wird oder nicht.

Gebräuchlich ist auch der Laktose-Toleranz-Test. Patienten nehmen wiederum Milchzucker zu sich. Vor und nach der Einnahme wird Blut abgenommen und jeweils der Blutzuckerwert gemessen. Erhöht sich der Wert nicht oder kaum, zeige dies, dass der Milchzucker im Dünndarm nicht verdaut wurde und der Patient somit laktose-intolerant ist.

Beide Tests weisen die Unver-träglichkeit nur indirekt nach. Für den H2-Atemtest sind Fehlerquoten von 20 Prozent publiziert. Vor allem: Sie bedeuten für die Patienten eine unangenehme oder auch schmerzhafte Prozedur. Da konzentrierter Milchzucker auf nüchternen Magen eingenommen werden muss, kann dies bei den Betroffenen je nach Ausprägung der Unverträglichkeit starke Beschwerden auslösen.

Erheblich angenehmer wäre das direkte Verfahren. Ein Bluttest, entwickelt von Wissenschaftlern der Universität Graz, vereinfacht die Diagnose. Dem Patienten wird eine Blutprobe entnommen. Diese wird auf die genetische Veränderung hin untersucht, die für die Laktose-Intoleranz verantwortlich ist. Die Einnahme von Laktose ist dafür nicht erforderlich.

In Deutschland sind schätzungsweise 5 bis 10 Prozent der Bürger betroffen

An der Grazer Universitätsklinik wird dieser Test bereits seit zwei Jahren durchgeführt. Im Januar 2004 wurde die breite Öffentlichkeit über die Methode informiert, seitdem gehen zahlreiche Blutproben in der Klinik ein. Auch ein privates Labor, geleitet von Winfried Renner, der den Gentest mit entwickelt hat, führt den Test nach Einsendung der Blutprobe durch den behandelnden Arzt durch. Seit Januar 2004 komme ein neues, vereinfachtes und auch kostengünstigeres Verfahren zum Einsatz. 35 Euro kostet der genetische Nachweis der Laktose-Intoleranz. In Deutschland jedoch wird das direkte Verfahren in der Diagnostik noch nicht eingesetzt.

Trägt ein Mensch die Veranlagung in seiner Erbsubstanz und kommt mit zunehmendem Lebensalter mit der Verdauung des Milchzuckers nicht mehr zurecht, „nehmen die Betroffenen zumeist automatisch weniger Milch und Milchprodukte zu sich, weil sie Blähungen und andere Probleme bekommen und daher laktosehaltige Speisen instinktiv meiden“, so Barbara Obermayer-Pietsch. Eine laktosearme Diät sollte verordnet werden, ist jedoch schwierig einzuhalten, da Milchzucker versteckt in vielen Nahrungsmitteln, besonders in Fertiggerichten, vorkommt.

Ökonomische Interessen lassen die Laktose fast unverzichtbar erscheinen. Sie ist billig und kann industriell hergestellte Fertigprodukte kostengünstig an- reichern. Oft nicht deklariert, verleiht sie den Speisen einen leicht süßlichen Geschmack und eine cremige Konsistenz. Hier versagen die Instinkte der Betroffenen.

Wer bewusst auf Milchprodukte verzichtet, kann trotzdem nicht sicher sein, beschwerdefrei davon zu kommen. Die Einnahme von Laktase-Präparaten – sie helfen, das natürliche Laktase-Enzym zu ersetzen – kann Linderung schaffen. Sie werden vor dem Essen eingenommen. Doch die Präparate sind schwer zu dosieren, da die Betroffenen oft nicht wissen, ob und wie viel Laktose sich im Nahrungsmittel befindet.

Eine Laktose-Unverträglichkeit muss nicht die totale Abstinenz von Milchprodukten bedeuten. Was oft gut vertragen wird, sind Hartkäsesorten – die Laktose wird während der Käsereifung abgebaut. Auch Produkte aus Ziegen- oder Schafsmilch sowie stark vergorener Joghurt kommen in Frage. „In Griechenland, wo es 60 Prozent Laktose-Intolerante gibt, wird nur stark vergorener Joghurt angeboten, auch ein Grund, weshalb laktose-intolerante Urlauber oft sagen, es gehe ihnen dort besser“, berichtet Obermayer-Pietsch aus ihrer klinischen Erfahrung.

Infos: www.libase.de