: Ein Spieler, entnervt
von HEIKE HAARHOFFund PASCAL BEUCKER
Manchmal zogen sich die Spiele über Tage hin: Länder erobern, Koalitionen schmieden, Siedlungen bauen. Die Welt neu ordnen. Eine komplexe Angelegenheit, diese Gesellschaftsspiele, zu denen der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Peer Steinbrück den einen oder anderen Kieler Kabinettskollegen schon mal einlud. Ohne strategisches Denken und Risikobereitschaft ging gar nichts. Und natürlich musste man den Ehrgeiz aufbringen, sich den Spielverlauf über die Unterbrechungsphasen hinweg zu merken. Dazwischen lagen die wirklichen Regierungsgeschäfte an der Förde.
Wie lange ist das her? Sechs, sieben Jahre wohl. Rainder Steenblock in seinem Berliner Bundestagsbüro rechnet. Vielleicht hätte er, der damals grüner Umweltminister war in der rot-grünen Koalition in Schleswig-Holstein, einfach der Einladung des Sozialdemokraten Steinbrück folgen sollen. Vielleicht hätte er für einen Moment alle politischen Kontroversen ausblenden und vergessen sollen, dass er seine Freizeit, wenn schon spielend, dann lieber in geselliger Doppelkopfrunde verbringt.
Ob er etwas genützt hätte, so ein Spieleabend – Steenblock spekuliert darüber nicht. Mittlerweile ist er Abgeordneter im Bundestag geworden und Steinbrück in Nordrhein-Westfalen Ministerpräsident. Aber ihn beschäftigt der Gedanke trotzdem. Die Nachrichten über die Koalitionskrise in Nordrhein-Westfalen erinnern ihn an vergangene eigene Leiden: „Es stimmt ja nicht, dass Steinbrück die Grünen hassen würde, dass er Berührungsängste hätte, dass er ideologisch gegen uns wäre.“ Pause. Was dann? „Er findet uns obernervig.“
Er sagt das beinahe nachsichtig jetzt, da die chronische Verstimmung zwischen Peer Steinbrück und der grünen Partei eskaliert, diesmal allerdings 500 Kilometer südlich von Kiel in Nordrhein-Westfalen. Dort provoziert Steinbrück – erst vor acht Monaten zum Regierungschef aufgerückt – gerade einen Koalitionsbruch. Selbst wohlwollende Parteifreunde haben mittlerweile den Eindruck eines Getriebenen, der nicht weiß, wohin es ihn treibt. Angesichts der Probleme des Landes dürfe es jetzt „keine selbsttherapeutischen quälenden Prozesse“ mehr geben, propagierte Steinbrück jüngst – und bescherte gleichzeitig seiner Regierungskoalition einen mehrwöchigen „ergebnisoffenen Klärungsprozess“. Was dabei herauskommen soll? „Wir brauchen einen Politikwechsel, damit niemand einen Regierungswechsel will“, verkündet Steinbrück – doch selbst seine eigenen Genossen wissen nicht so recht, was sie sich darunter vorstellen sollen. Von dem SPD-Landesparteitag am morgigen Samstag erhoffen sich denn viele Delegierte, endlich erklärt zu bekommen, wohin der 56-Jährige steuert.
Bis zur Landtagswahl sind es noch zwei Jahre. Eigentlich. Doch Steinbrück stänkert gegen den Koalitionspartner: „Alles, was sich wie Mehltau über die Landschaft legt, was nach Bremsklötzen riecht, kann sich diese Koalition nicht leisten.“
Rainder Steenblock wundert sich nicht. Er sagt: „Der Konfliktaufbau ist derselbe, wie in Schleswig-Holstein so in Nordrhein-Westfalen.“ Nur dass der Bruch diesmal wahrscheinlicher ist. Nur dass Steinbrück sich diesmal nicht erneut in ein anderes Bundesland wird flüchten können, sollten nicht nur die Grünen, sondern auch seine eigenen Genossen die Nase voll haben von seinem wenig diplomatischen Polterstil. Ich oder die – die Entscheidung scheint unausweichlich. Doch der Reihe nach.
Kiel 1996, Steinbrück kontra Steenblock, sie sind die wichtigen Gegenspieler in Heide Simonis’ rot-grüner Koalition. Zwei fast gleich alte Männer. Der eine, Steinbrück, ist studierter Volkswirt aus bürgerlicher Familie, politisch geprägt durch die sozialliberalen Koalition der 70er–Jahre. Zu seinem strategischen Denken, seiner Risikobereitschaft gehört es, als Kieler Wirtschaftsminister auf Großprojekte zu setzen: Milliarden für Ostseeautobahn und für Transrapid. Der andere, Steenblock, in K-Gruppen sozialisiert, toleriert als Umweltminister, dass Grünen-Abgeordnete Grundstücke entlang der Autobahntrasse kaufen, um gegen das Verkehrsprojekt der eigenen Regierung vor Gericht klagen zu können.
Für Steinbrück, der seine politische Karriere als gewissenhafter Verwaltungsreferent begonnen hatte, kam es einer Strafe gleich, sich mit Menschen abstimmen zu müssen, von denen er sich verraten fühlte, und die er folglich für politikunfähig hielt. Er, „der selbst stets mit offenem Visier kämpft“, wie der ehemalige Kieler Justizminister Gerd Walter sagt, machte die Grünen fortan klein. Er, „der rational argumentiert und emotional wird, wenn ihm das verweigert wird“, wie sein Vorgänger im Kieler Wirtschaftsministerium, Uwe Thomas, sagt, verschärfte die Spielregeln. Die grüne Diskussionsfreudigkeit empfand er ohnehin als Palaver. In der öffentlichen Wahrnehmung entstand das Bild vom „Grünen-Fresser“.
Vor Gericht errangen die Autobahnkläger einen vorübergehenden Teilerfolg. Seinem ehemaligen Kommilitonen Wolfgang Kubicki, der Fraktionschef der FDP im Kieler Landtag wurde und mit dem Steinbrück seit Jahren gern bei einem Glas Rotwein über Politik debattiert, vertraute er seine Verzweiflung an: „So ist das Leben nicht.“
So ist das Leben doch, und dieser Tage ganz besonders.
Düsseldorf, Frühsommer 2003. Plötzlich steht Steinbrück, der Ministerpräsident des größten Bundeslandes, als potenzieller Königsmörder da. Ihm, der noch bei der Debatte um die Agenda 2010 vor wenigen Wochen als einer der Getreuen des Kanzlers galt, wird vorgeworfen, mit seinen Attacken gegen die Grünen und seiner Sympathie für ein Bündnis mit den Liberalen gefährde er nicht nur Rot-Grün im bevölkerungsreichsten Bundesland, sondern arbeite aktiv auf die politische Wende auf Bundesebene hin. Steinbrück – ein heimlicher Umstürzler?
„Abwegig“, sagt sein ehemaliger Büroleiter Jürgen Fenske, sagt eine frühere Pressesprecherin, sagt sein langjähriger Freund und Exinnenminister Ekkehard Wienholtz, sagen die meisten, die ihm nahe gekommen sind. Man müsse sich ihn doch bloß ansehen.
Man sieht sich ihn an, in Talkshows, auf Pressekonferenzen, im Landtag. Ein klassisch-adrett gekleideter Mann mit hoher Stirn und norddeutschem Akzent tritt da auf, einer, den man gefahrlos durch die Fußgängerzonen von Köln, Essen und Münster schicken könnte, ohne dass er, jede Wette, erkannt würde. Manchmal wirkt Steinbrück, als wundere er sich selbst darüber, wie er, der Fachpolitiker mit dem Charisma eines Behördenleiters, es eigentlich zum Ministerpräsidenten bringen konnte. Dass die nordrhein-westfälischen Genossen nach Wolfgang Clements Wechsel ins Bundeskabinett lieber ihren Parteivorsitzenden Harald Schartau als neuen Regierungschef gesehen hätten, hätte die Landesverfassung dessen Wahl zugelassen, ist ein offenes Geheimnis. Steinbrücks Aufstieg wirkt wie ein Betriebsunfall.
Kein Unfall, findet Steinbrück. Er möchte sein Macher-Image aufpolieren – beim Metrorapid, beim Flughafenausbau, bei Garzweiler. Großprojekte als Zukunftsvision. Die Grünen sind ihm dabei hinderlich.
Seine Umfragewerte sind mittlerweile unter die des CDU-Oppositionsführers Jürgen Rüttgers gerutscht. Ihm dagegen, der Zeit seiner Laufbahn als Import ohne Verankerung in den jeweiligen SPD-Verbänden galt, schwindet die Autoriät innerhalb der Landespartei dahin. Und Norddeutscher zu sein unter rheinischen Karnevalsprinzen und rippenhemdtragenden Taubenzüchtern aus dem Ruhrgebiet macht die Sache nicht leichter.
Fremdheit macht unsicher. Oder aggressiv. Also macht Steinbrück seinem Unwohlsein öffentlich Luft, wählt die klassische Offensive, sagt gerade heraus, was er denkt, wie es schon in Kiel seine Art gewesen ist, und das mit Absicht: die Grünen sollen wieder klein gehalten werden, auf dass allen klar werde, dass die Spielregeln immer noch er bestimmt. Die Regeln von Metrorapid, Flughafenausbau, Garzweiler. Gut möglich, dass er den Koalitionsbruch als Risiko einkalkuliert hat. Sein oberstes Ziel ist er sicher nicht.
Steinbrück hätte ahnen können, dass sein Vorgehen nicht unbedingt erfolgreich ist. Schon einmal musste er gehen, weil er die Folgen einer voreiligen Attacke unterschätzt hatte.
Es war 1998, es ging um die Ostseepolitik Schleswig-Holsteins. Der Wirtschaftsminister hatte im Auftrag des Kabinetts ein Konzeptpapier entworfen. Journalisten wurden eingeladen. Zahlen, Prognosen, trockener Stoff. Da plötzlich entfuhr es Steinbrück: Schluss müsse sein mit dem ewigen „Klein-Klein“ der Landesregierung, aufgehört werden mit einer Politik „auf Pepita-Niveau“. Heide Simonis verstand. Steinbrück überlebte politisch nur, weil die Nordrhein-Westfalen ihn wenige Monate später in ihr Kabinett retteten.
Nun ist Steinbrücks Spiel in Düsseldorf in der Endphase angekommen. Seine Mitspieler von der SPD werden langsam ungeduldig, viele sehen den Sinn des Koalitionsstreits nicht. Die Gegenspieler von der CDU sind im Aufwind, sie wollen keine große Koalition, sondern Neuwahlen. Auch die FDP würde Steinbrück nichts schenken. Und die Grünen, für die Regierungsteilhabe an sich lange ein hoher Wert war, haben keine Lust mehr. „Es läuft auf den Bruch zu“, schätzt ein Spitzengrüner aus Düsseldorf.
In Berlin guckt Rainder Steenblock, der frühere Umweltminister, auf das Birkenwäldchen vor seinem Bundestagsbüro. In 500 Jahren, sagt er, werde sich daraus ein schöner Buchen- und Eichenwald entwickeln. Vorausgesetzt, die Menschen griffen nicht ein in die Natur. Menschen wie Steinbrück. Steenblock sagt: „Die Grünen dürfen nicht in die Falle laufen, Rot-Grün für die einzige politische Option zu halten, um regieren zu können.“ Er sagt das leidenschaftslos. Und dann, beinahe dankbar: „Das habe ich von Peer Steinbrück gelernt.“