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Archiv-Artikel

Die Wut auf den weißen Mann

Der afroamerikanische Soldat Private Henry Lincoln Johnson überwältigte im Ersten Weltkrieg allein einen ganzen Spähtrupp weißer Soldaten – erst 1996 wurde ihm posthum von Bill Clinton das „Purple Heart“ verliehen. Eine Erzählung anlässlich der nahenden Amtseinführung von Barack Obama

VON STEPHAN WACKWITZ

Die Fifth Avenue entspringt (denn wir erzählen in Fahrtrichtung von ihr, stadteinwärts) am nordöstlichen Stadtrand von Harlem. An einem strahlenden Samstagnachmittag im März 2008 habe ich mich in die unansehnliche, vage heruntergekommene Stadtlandschaft am Harlem River verirrt. Hier nimmt der weltberühmte Boulevard seinen Ausgang. Das Flussufer riecht nach Wasser und Verwesung. Eine Brücke aus gigantischen Stahlträgern führt in die Bronx hinüber. Lagerhäuser und braunsteinerne Blocks von Sozialwohnungen nehmen quadratkilometerweit kein Ende. Der Highway, der die ganze Insel einfasst und hinter einer Absperrung auch hier vorüberwütet, folgt dem Verlauf des Flusses von Nord nach Südost zum East River.

Eigentlich ist es also der Strom gewesen, der das rechtwinklige Straßengitter hier diagonal halbiert hat. Eine halbherzige, ihrer selbst nicht ganz gewisse Stadtplanung ist sich dieser Landschaftsform irgendwie bewusst gewesen und hat das entstandene Dreieck auf der Mitte der Kreuzung in einer kleinen Verkehrsinsel wiederholt. Drei kleine Bäume. Zwei unbequeme Bänke. Pflegeleichtes Bodengehölz. Vom unablässig wehenden Wind der Flusslandschaft hergetragene Plastiktüten haben sich hier verfangen. Zigarettenkippen. Werbeprospekte, wie man sie in Hauseingängen findet und irgendwo wegwirft, vergilben im Rinnstein. Und mitten in all dieser Vernachlässigung steht und glänzt im kalten Frühlingssonnenlicht ein drei Meter hoher Obelisk aus dunkelgrauem Granit.

Einen Moment lang ist er ein Zitat aus den Anfangsszenen von Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“. Wenn man sich nicht entschließen will, den wie vom Himmel in diese denkbar unpassende Gegend gefallenen Steinkegel auf eine schwer greifbare Weise unheimlich zu finden, ist er entschieden rührend in seinem rudimentären und schmutzigen Miniaturpark – und deshalb wie alles Rührende auch ein bisschen lächerlich. Obelisken sind seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert die schwersten, die geheimnisvollsten, die ultimativ dramatischen Zeichen repräsentativer Stadtrhetorik gewesen. 1836 wurde der Obelisk von Luxor auf der Place de la Concorde in Paris aufgestellt. Nicht lang zuvor hatte die riesige Freifläche zwischen Stadt und Palast „Place de la Révolution“ geheißen und die Guillotine beherbergt. Die Steinsäule aus dem fremden Land war ein nicht deutbares und deshalb für alles Erdenkliche stehendes Symbol des wiederhergestellten Zusammenhangs der Stadt, des Landes, der Lebenden und der Toten (die Ägypter symbolisierten in diesen seltsamen, eleganten und unübersehbaren Stelen, wie es scheint, die Strahlen des Göttlichen, das in ihnen auf die Erde trifft). Seitdem ließ sich jedes Beaux-Arts-Stadtbild des neunzehnten Jahrhunderts angelegen sein, einen wirklich aus Ägypten herangeschafften oder vor Ort selbst behauenen Obelisken an denjenigen Plätzen, Embankments und Promenaden aufzustellen, wo es besonders mysteriös, bedeutungsreich und romantisch zugehen und den Spaziergänger anmuten sollte. Wo es im neunzehnten Jahrhundert ernst wurde mit der Macht und dem Reichtum, verständigten sich Bauherr und Architekt auf römische Bauformen (in New York zum Beispiel in den Gebäuden der Wall Street). Genauso reflexartig verstehen wir heute noch Obelisken als Pathosformeln eines Unerklärlich-Bedeutenden. Im Souterrain unseres kollektiven Formempfindens ist das antike Bild des mediterranen Ostens so lebendig wie zur Lebenszeit Julius Cäsars.

Allerdings hat der Obelisk am Ursprung der Fifth Avenue nichts von der Größe, der Verwittertheit, der Authentizität zum Beispiel des sogenannten Obelisken von Heliopolis, der ein paar Kilometer weiter südlich hinter dem Metropolitan Museum am Eingang in den Central Park steht (der New Yorker Industriefürst William H. Vanderbilt hat ihn im späteren neunzehnten Jahrhundert aus Ägypten hierhertransportieren lassen). Doch sind auch die goldenen Inschriften des kleinen Monuments in Harlem fast hieroglyphenhaft geheimnisvoll. Und sie wären nicht zu deuten, wenn nicht eine der grünweißen Erklärungstafeln der Stadtverwaltung inmitten des Bodengehölzes einen aufklären und ins Bild setzen würde: Die französischen Ortsnamen, die kryptischen Datumsangaben, das Symbol der drohend aufgerollten, zum Vorschnellen bereiten Schlange und die zugleich umständliche wie lakonische Truppenbezeichnung „369th Infantry Regiment (15th Regiment NYG) (Colored)“ – all das verweist auf eine Einheit der Nationalgarde. Als regulärer Truppenteil der vierten Armee der französischen Republik hat sie nach 1917 gegen das deutsche Kaiserreich gekämpft (und gegen meinen Großvater, dachte ich sofort, der als Offizier damals in Flandern stand). Allein während der Befreiung des Fleckens Sechault in den Ardennen fiel ein Drittel der Einheit. Die Überlebenden des Krieges wurden nach ihrer Rückkehr mit einer Parade gefeiert, die vom Washington Square aus die gesamte Fifth Avenue stadtauswärts nach Harlem entlanggeführt hat – bis zu dem seltsamen Platz, auf dem wir jetzt stehen und, in der Märzsonne blinzelnd, uns einen Reim auf die goldenen Inschriften des kleinen, grauen Obelisken zu machen versuchen.

Die „Harlem Hellfighters“, wie das 369th Infantry Regiment (15th Regiment NYG) (Colored) der New Yorker Nationalgarde sich irgendwann selbst getauft hat und von seinen weißen Kameraden bald immer respektvoller genannt werden sollte, sind eine rein afroamerikanische Einheit gewesen (in der American Army herrschte zur Zeit des Ersten Weltkriegs noch race segregation). Nach dem Eintritt der USA in den Krieg im April 1917 wurden die Hellfighters zur Armee übernommen. In South Carolina trainierte man sie unter dem rassistischen Hohngelächter der Einheimischen als eine Art Exotikum auf Gefechtsbedingungen. Und am Neujahrstag des Jahres 1918 schließlich betrat mit dem 369th Infantry Regiment ein Gepäckträger und Mietpage aus Albany im Staat New York den in schon vier entsetzlichen Jahren und unzähligen massenmörderischen Schlachten umkämpften Kontinent Europa: Henry Lincoln Johnson. Diesem Mann wird unsere Erzählung jetzt eine Weile lang folgen, bis seine Gestalt sich wieder in den Anmutungen, Erinnerungen und Geistererscheinungen verflüchtigen wird, die in dem kleinen, vernachlässigten Verkehrsinselpark des Obelisken am Ursprung der Fifth Avenue umgehen.

Man weiß im Grunde nicht viel von Henry Lincoln Johnson. Er war 1897 irgendwo im Süden zur Welt gekommen. Sein zweiter Vorname und seine Übersiedlung nach New York State lassen auf den Willen seiner Eltern schließen, der Erinnerung an die Sklaverei, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch schwer auf den amerikanischen Südstaaten gelastet hat, in erfolgversprechendere Gegenden zu entfliehen. Aber es war dann doch nur ein professioneller Lastenträger aus Henry Lincoln geworden, der sich in Albany am Bahnhof bereithielt, um gegen Entgelt Golfausrüstungen, Hutschachteln und Koffer in Autos zu verladen oder auf Hotelzimmer zu schleppen. Auch seine Karriere in Nationalgarde und Armee war lange Zeit unspektakulär verlaufen. Bis am 14. Mai 1918 Private Johnson im Niemandsland zwischen den Fronten des Argonnerwalds einen verwundeten Kameraden zu seiner Einheit zurückbegleitete und in einen Spähtrupp von 30 bis 40 deutschen Soldaten hineinlief, die das Feuer eröffneten. Johnson wurde bei dem sich nun entfaltenden Schusswechsel verwundet. Er scheint einen Moment in Ohnmacht gefallen und tot geglaubt liegen gelassen worden zu sein, während die Deutschen seinen Kameraden in die Gefangenschaft davonführten.

Nun passierte Folgendes: Henry Lincoln Johnson erlangte nach kurzer Zeit das Bewusstsein wieder und sah sich ohne seinen Schutzbefohlenen allein im Schlamm des Argonnerwaldes liegen. Er stand trotz seiner schweren Verwundung irgendwie auf, nahm – offenbar vollkommen high on adrenalin – sein noch geladenes Gewehr an sich, setzte dem deutschen Spähtrupp, sein Gewehr leer schießend, nach und warf sich, bewaffnet mit nichts als seinen Fäusten und dem sogenannten Bolomesser, einer unterarmlangen Machete, auf den Feind, dessen Verblüffung in seinen entscheidenden taktischen Vorteil umwandelnd. Der sich rücksichtslos in den völlig aus dem Konzept gebrachten Feind hineinkämpfende (dabei, wie gesagt: selber schwer verwundete) Henry Lincoln Johnson ließ eine beispiellose, militärische Tapferkeit gewöhnlichen Menschenermessens weit hinter sich lassende, ins Maniakalische vorstoßende (und eigentlich entschieden unheimliche) Schneise der Vernichtung hinter sich. Der Entfesselte tötete vier deutsche Soldaten, verwundete um die zwanzig, trieb die Deutschen in die Flucht, kümmerte sich eine Nacht lang um seinen Kameraden und wurde erst im Morgengrauen von seinen scheu staunenden Kameraden entsetzt. Die Nachricht vom Amoklauf des Gepäckträgers aus dem amerikanischen Albany verbreitete sich mit der Geschwindigkeit eines Steppenbrands bei Freund und Feind. Henry Lincoln Johnson wurde im französischen Heeresbericht erwähnt und erhielt das „Croix de la guerre“. Das 396. Infanterieregiment sollte wenig später auch als Einheit diesen Orden erhalten und war weithin berühmt als eine der tapfersten Truppen des großen Kriegs. Der Mann jedoch, der in einem einzigen, nie mehr zu vergessenden Lebensmoment eine generationenalte Wut auf den weißen Mann im Rahmen des militärisch Zulässigen und Erwünschten in sich befreit und eine gar nicht mehr übersehbare Schuld der Weißen an deutschen Soldaten gerächt hatte, wurde wie so viele Veteranen aus dem ersten großen Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr heimisch im Leben. Militärische Heldenstücke wie das von Henry Lincoln Johnson am 14. Mai 1918 vollbrachte sind vermutlich nur zu erklären durch die Annahme eines lange in vielen (vielleicht allen) Menschen bereitliegenden Dispositivs der Tötungslust. In bestimmten Extremsituationen von Angst und Wut entlädt es sich (das ist die eine Möglichkeit) verbrecherisch. Oder eben (wenn Krieg ist) in einem Rahmen, der zur Verleihung von Orden führt.

„Drei Minuten vor dem Angriff winkte mir Vinke mit einer gefüllten Feldflasche. Ich tat einen tiefen Zug. Es war, als ob ich Wasser hinabstürzte. Nun fehlte noch die Offensivzigarre. Dreimal löschte der Luftdruck das Streichholz aus. Der große Augenblick war gekommen. Die Feuerwalze rollte auf die ersten Gräben zu. Wir traten an.“ So hat Ernst Jünger die Seelenzustände „In Stahlgewittern“ beschrieben. Sie herrschten 1914 bis 1918 auf beiden Seiten des Frontensystems im Westen. Das französische und flandrische Erdreich war tief hinein unterminiert, angefüllt bis dicht unter die Oberfläche mit Unterständen, Holzabstützungen, Heimweh, Läusen, Karabinern, Leichen, Mörsern, Eintopfgerüchen, Spaten, Todesvorahnungen, Stinksocken, Verzweiflungen. Als seien Maulwürfe am Werk, die in einem Albtraum oder sinistren Horrorfilm zu Raubtieren mutiert waren. Von Zeit zu Zeit brachen sie hervor ans Licht und stürmten voll Mordlust nach vorn. „Im Vorgehen erfasste uns ein berserkerhafter Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten beflügelte meine Schritte. Die Wut entpreßte mir bittere Tränen. Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt lastete, verdichtete sich in den Gehirnen und tauchte sie in rote Nebel ein. Wir riefen uns schluchzend und stammelnd abgerissene Sätze zu und ein unbeteiligter Zuschauer hätte vielleicht glauben können, daß wir von einem Übermaß an Glück ergriffen seien.“

Wie Hochverrat ist Massenmord eine Frage des Datums. Johnson könnte (so sich den Fall zurechtzulegen und ihn in seinen geheimen Implikationen weiterzuspinnen kommt man bei längerem Nachdenken nicht umhin) in einem umnebelten Zustand des Außersichseins gewesen sein, gesteuert von der nicht mehr zu kontrollierenden Wutlust darauf, weiße Männer umzubringen. Es war eine Urszene, ein extremes, im Körper Henry Lincoln Johnsons aufgespeichertes, aus fernen Zeittiefen an ihn überliefertes Gefühl, und an jenem Maitag im Jahr 1918 wurde es plötzlich überwältigende Realität („Weiße Männer führen meinen schwarzen Bruder in die Gefangenschaft. Ich töte sie jetzt. Jetzt reicht es. Wir lassen uns das nicht mehr gefallen“). Wer derlei einmal erlebt hat, aus dem wird kein guter Gepäckträger mehr. An der Siegesparade seiner Einheit die Fifth Avenue stadtauswärts hat Henry Lincoln Johnson noch in der ersten Reihe teilgenommen. Ich betrachte im Internet das vergilbte Foto eines schüchtern dreinblickenden, kleingewachsenen schwarzen Manns unter dem französischen Helm. Man fährt ihn stehend in einem offenen Auto wie einen Präsidenten oder sonst eine Zelebrität. Und er hält, so ungeschickt und verlegen wie manche Geistererscheinungen, einen Blumenstrauß in der Hand.

Aber mit seiner Frau (die sich insgeheim vor ihrem Mann jetzt vielleicht gegraust haben mag) wurde es nie mehr so wie zuvor. Seine vielen Kriegsverwundungen machten es ihm unmöglich, weiter in seinem Beruf zu arbeiten. Der von Dünkel und Rassenangst verblendeten Armeeführung ist das von Private Johnson angerichtete Massaker (das als Heldentat anzuerkennen sie freilich nicht umhinkonnte) offenbar tief unheimlich gewesen. Sie verweigerte ihm angemessene soziale Unterstützung ebenso wie eine militärische Auszeichnung. Erst knapp über dreißig Jahre alt starb Henry Lincoln Johnson 1929 im Veteranenkrankenhaus von Albany am Alkohol und an den Folgen seiner Verwundungen (mein Großvater, der im selben Jahr geboren ist wie Private Johnson und im gleichen Krieg gekämpft wie er, stand – hochdekoriert – damals einer deutschen Auslandsgemeinde im polnischen Oberschlesien vor und würde noch fünfzig Jahre, bis 1979, leben; eine andere Geschichte, die anderswo erzählt worden ist). Henry Lincoln Johnson dagegen wurde erst von Präsident Bill Clinton 1996 posthum das „Purple Heart“ verliehen. Und eine Veteraneninitiative, die in Albany schon die Errichtung eines Denkmals für ihren berühmten Kameraden und die Umbenennung einer Ringstraße in „Henry Johnson Boulevard“ durchgesetzt hat, lässt sich derzeit die Höherstufung dieses Ordens zur höchsten amerikanischen Tapferkeitsauszeichnung, der „Medal of Honor“, angelegen sein.

Die Geschichte Johnsons ist eine Art Mikroskop oder Fernglas. Seine Rohre und Linsen sind aus extremer, vielleicht pathologischer Tapferkeit gemacht. Man kann in ihm die Tage und Nächte, die Träume und Ängste, die Wut und die Einsamkeit der kein Ende nehmenden Mordmonate des ersten großen Krieges betrachten – Erlebnisse, von denen dann schon die übernächste Generation („Opa erzählt wieder vom Krieg“) mit vielleicht gutem Recht nichts mehr wissen will. Die Geschichte der Kunst dagegen ist weniger pointillistisch überliefert als die der Tapferkeit. Die Eroberer und Wegbereiter, die Schurken, Versager, die Hochstapler, die Berühmten und die Verkannten im kulturellen Geisterreich sind Thema einer episch ausschwingenden, vielfältig zusammenhängenden, gut ausgearbeiteten und oft wiederholten Erzählung. Verblüffenderweise aber hat auch zu ihr das 369th Infantry Regiment (15th Regiment NYG) (Colored) ein entscheidendes Kapitel beigetragen. In den nun folgenden Wochen erfuhr ich es schrittweise, staunend und immer mehr erfüllt von so etwas wie Ehrfurcht, auf Spaziergängen und über Recherchen in Bibliotheken oder im Internet, nachdem ich den Faden an jenem kalt strahlenden Märznachmittag des Jahres 2008 in Harlem einmal aufgenommen hatte. Um es kurz zu machen: Die Regimentskapelle der Harlem Hellfighters war eine der berühmtesten und einflussreichsten Jazzformationen der Musikgeschichte. Die 369th Infantry Regiments Band unter der Leitung von James Reese Europe hat ihre Kameraden aufgeheitert und getröstet durch damals hochberühmte Ragtime-Nummern wie „On Patrol in No-Man’s Land“. Einerseits. Andererseits und sozusagen nebenher aber hat diese Regimentskapelle nichts Geringeres geleistet als die Einführung des Jazz in Europa. Ihr Bandleader, der Pianist James Reese Europe, ist als Musiker und Kulturpolitiker eine zentrale Figur des „Ragtime“, jener synkopierten und harmonisch grell gefärbten Marschmusik, aus der erst in den Zwanzigerjahren entstanden ist, was wir heute Jazz nennen.

Vor dem Ersten Weltkrieg freilich war Ragtime noch nicht die Vorgeschichte von irgendetwas, sondern eine von mehreren Avantgarden schwarzer Kultur, die sich in New Orleans, Chicago und Harlem etablierte und den Kampf um ihre gesellschaftliche Legitimation aufnahm. Wie Henry Lincoln Johnson kam James Reese Europe aus dem Süden, aus Alabama. Schon seine Eltern waren Musiker. Und bei dem Kompositionswettbewerb, der dem musikalischen Wunderkind zum ersten Mal so etwas wie Ruhm eintrug, bekam er nur deshalb den zweiten und nicht den ersten Preis, weil diesen seine kleine Schwester gewann.

Mit zweiundzwanzig begann er in New York für die wichtigsten Bandleader seiner Zeit zu spielen. Die Künstlerlegende behauptet, der siebenjährige George Gershwin habe auf dem Bordstein des Harlemer Lokals gesessen, wo Europes Musik durch offene Türen zu ihm herausdrang. Fest steht jedenfalls, dass James Reese Europe, dessen Ruf sich in der Musikwelt nun schnell verbreitete, sein Prestige als Künstler in die Gründung einer kulturpolitisch bahnbrechenden und bis heute vorbildlichen Musikerkooperative einbrachte. Der „Clef Club“, dessen Immobilie an der West 53rd Street bald zum Zentrum des Jazz in New York wurde, ist eine Kombination von Künstlergewerkschaft, Lokal, Konzertagentur und Musikklub gewesen. Ein visionäres Monument der Selbstorganisation einer Berufsgruppe, die im öffentlichen Bewusstsein damals noch knapp über Schuhputzern, Clowns und Gangstern rangierte. Und der höhere Organisationsgrad zahlte sich aus. Zunächst in einem neuen Selbstbewusstsein der New Yorker Jazzmusiker, aber dann auch sehr schnell in verbesserten Arbeitsbedingungen, in vielfältigen und karrierefördernden Gelegenheiten zu intensiverer Kommunikation über Musik, über Auftrittsmöglichkeiten, über Personalien und den neuesten Klatsch. Der Arbeiterbewegung analog und parallel zu deren Erfolgen kam es schon vor dem Ersten Weltkrieg zu einer gewerkschaftsartigen Beheimatung und Einbürgerung des musikalischen Jazz-Prekariats in die entstehende schwarze Middle Class. Die sollte in der Folge zum Träger der sich in solchen Initiativen bereits ankündigenden „Harlem Renaissance“ der Zwanzigerjahre werden.

Schon vor dem Krieg, am 2. Mai 1912, war das Ragtime-Orchester des Clef Club unter der Leitung von James Reese Europe zum ersten Mal in der Carnegie Hall in Midtown aufgetreten. In New York sind Stadtteile, Konzertsäle, Klubs, Museen – sogar einzelne Straßen wie die Park Avenue oder eben die Fifth Avenue, die Heldin dieser Erzählungen und Forschungen – in einer gusseisern über Jahrzehnte und Jahrhunderte festgelegten Konstanz gesellschaftlich und kulturell kodiert. Eine Band aus Harlem im hochherrschaftlichen Kulturtempel der New Yorker Haute Bourgeoisie – das war 1912 eine kalkulierte Provokation, ein spektakulärer Akt des Muts und fast skandalöser Offenheit vonseiten des Carnegie-Managements. Und eine Gelegenheit, der sich James Reese Europe mit seinen musikalischen Mitstreitern nun in einer so aufregenden und überzeugenden Weise gewachsen zeigte, dass der Ragtime-Tabubruch bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs und zur Einschiffung der Band nach Frankreich noch zweimal wiederholt werden sollte. James Reese Europe aber fiel nach der Rückkehr aus dem Krieg (den er unversehrt überstanden hatte) auf der Amerikatournee seiner Band in Boston dem Wutausbruch eines Perkussionisten zum Opfer, der in der Konzertpause aus einem längst vergessenen Grund mit dem Messer auf seinen Chef einstach und ihm die Halsschlagader durchtrennte. In der Geschichte seiner Musik hat es James Reese Europe nicht zu größerem Ruhm gebracht als zu dem eines Wegbereiters. Und es ist ein ironischer Akzent seines Lebenslaufs, dass ihm (der auf kulturellen Feldern ungleich Bleibenderes geleistet hat als auf denen des Kriegs) die militärische Ehre einer Bestattung auf dem Heldenfriedhof in Arlington zuteil wurde.

STEPHAN WACKWITZ, Jahrgang 1952, lebt als Schriftsteller in New York, von dessen Goethe-Institut aus er die Kulturprogramme für Nordamerika verantwortet. Sein Roman „Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert“ erscheint voraussichtlich 2010 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main