Landeplatz für Utopien

Gegen Stasi- und Neonazi-Mief: In Lichtenberg herrscht Aufbruchstimmung. Mit EU-Geldern wurde der Victoria-Kiez renoviert, und in alten Bahnhofsgebäuden richten Künstlerkollektive ihre Ateliers ein. Angst vor Gentrifizierung haben sie nicht

VON HENRIKE THOMSEN

Als Johannes Buchholz zu seiner jüngsten Ausstellung einlud, stieß er auf betretene Gesichter. „Lichtenberg? Da komme ich nicht hin, haben einige gesagt, besonders Leute aus Westberlin. Ich dachte, ich höre nicht richtig“, erinnert sich der Künstler. Die gleichen Leute, die begeistert in eine alte Lagerhalle in der einsamen Heidestraße in Mitte gekommen waren, in der Buchholz zuvor seine dynamisch abstrakten Zeichnungen gezeigt hatte, sahen in der Galerie im Ratskeller Lichtenberg – aufwendig rekonstruiert und fünf Gehminuten vom Frankfurter Tor entfernt – eine No-Go-Area.

Kunst beim Fleischer

„Lichtenberg ist für viele eben Stasi plus Neonazis, das schlechte Image klebt an uns“, sagt Ute Müller-Tischler vom Kunst- und Kulturamt des Bezirks. Doch die Kulturpolitik und Künstler wie Johannes Buchholz tragen dazu bei, dass sich dieser Ruf langsam wandelt. Eine lebendige Szene mit Ateliers, Galerien und einem kreativ-wirtschaftlichen Pilotprojekt ist entstanden, unter dem Einfluss der Rummelsburger Bucht mit ihren teuren Townhouses und dem angrenzenden Studentenkiez Friedrichshain vollzieht sich ein leiser Wandel.

Das Herz dieser neuen Szene bildet der Victoria-Kiez, ein vorwiegend mit EU-Geldern liebevoll restauriertes Gründerzeitviertel. Wie eine Insel liegt er zwischen den Gleisen vom Ostkreuz zum Nöldnerplatz und nördlich zur Frankfurter Allee. Allein das Stadthaus mit Museum und Bibliothek wurde für 2,3 Millionen Euro saniert. In der Nähe hat sich die erste Privatgalerie in einer früheren Metzgerei niedergelassen und nennt sich „After the butcher“. Am Rande des Victoria-Kiez liegen die BLO-Ateliers auf dem alten Betriebswerk Lichtenberg-Ost. Im Frühjahr 2004 war der frühere Verein „Milchhof“ aus Mitte hierher übergesiedelt, inzwischen arbeiten 36 Künstler in den flachen früheren Bahnwerkstätten und dem Hauptgebäude aus rotem Backstein. Letzteres rutschte irgendwann hinten um einen halben Meter ab und bietet nun mit seinen schiefen Wänden, schrägen Fenstern und kippenden Türstürzen eine unfreiwillige expressionistische Musterkulisse.

Voller Flair ist auch der große Lokschuppen von 1880 mit einer rostigen Gleisdrehscheibe und einem hohen gefensterten Holzdach. Als er vor anderthalb Jahren an einem Sommerabend zum ersten Mal hierher kam, um eine vom Studium an der Hochschule der Künste befreundete Malerin zu besuchen, fühlte sich Johannes Buchholz sofort angezogen. „Es herrschte eine Stimmung, als hätte man den Görlitzer Bahnhof in den 1980er Jahren mit einem Schrebergarten kombiniert“, erzählt der 47-Jährige. Zwischen den rohen Holzstatuen eines Bildhauers und den Zielscheiben eines Bogenbauers finden sich auf dem weitläufigen Gelände tatsächlich kleine Nutzbeete.

Vor kurzem hat sich das erste Fernsehteam hierher verirrt. Buchholz hofft, dass die Anwesenheit der BLO-Ateliers nicht diese Sorte von Trend auslöst. „Man sagt ja, erst kommen die Künstler, dann die Galeristen und dann die Makler“, scherzt er. „Der Kiez wird gerade entdeckt, aber ich hoffe, dass es vorerst bei diesem Lebensgefühl bleibt, als unternehme man eine Zeitreise zurück.“

Denn nicht nur die alten Wohn- und Industriebauten sind erhalten geblieben, auch die Bevölkerungsstruktur mit vielen eingesessenen Ostberlinern. Die Kulturamtsleiterin Ute Müller-Tischler glaubt nicht an eine schnelle Gentrifizierung, zu groß seien die Strukturprobleme wie Bevölkerungsschwund, Arbeitslosigkeit und rechte Tendenzen. „Ich glaube an die Kraft der Kultur, aber solche Prozesse kehrt man nicht innerhalb von zwei Jahren um“, sagt sie. Vorerst also gehört Buchholz weiterhin zu den wenigen Entdeckern dieser inspirierenden Stadtlandschaft, die er wie Musiknotate ins Bild setzt: Grafische Sinfonien oder Kammerstücke der Straßen, Plätze und Gebäude. Die Ausstellung im Ratskeller hat er mit Blättern vom Dach des Lokschuppens, wo er den Rhythmus der Gleise studiert, und vom Ostkreuz bestückt.

Die dritte wichtige Inspirationsquelle ist die Max-Taut-Schule am Nöldnerplatz. Der Architekt der Neuen Sachlichkeit, der oft nur im Zusammenhang mit seinem älteren Bruder Bruno Taut bekannt ist, hatte Ende der 1920er-Jahre den Zuschlag für die seinerzeit größte Schulanlage in Deutschland gewonnen. Mit einer kühn geschwungenen Aula inmitten zweier dreieckiger Plätze gilt sie heute als Hauptwerk der reformpädagogischen Bewegung und deren Abkehr von der frontalen Pauk-Schule. Von 2002 bis 2007 wurde die Max-Taut-Schule aus EU-Mittel umfassend saniert, die Aula im Dezember 2007 feierlich wiedereröffnet. In seinen Zeichnungen lässt Buchholz Tauts Signetarchitektur regelrecht fliegen, verdichtet und kombiniert sie in neuen Perspektiven.

Heiner Müllers Geburtstag

„Jeder Stadtraum hat sein Profil, und es ist gut, wenn er spezifisch inspiriert“, sagt Müller-Tischler. In dem großen Bezirk Lichtenberg gibt es aber insgesamt noch ganz andere Ecken als den Victoria-Kiez und entsprechend andere Projekte zu entdecken, etwa das „Studio im Hochhaus“ in einem Plattenbau in der Zingster Straße oder die „Heikonauten“, eine Kreativschmiede mit Designern, Fotografen und Architekten in einem früheren Kindergarten in der Sewanstraße.

Überhaupt, Lichtenbergs Plattenbauten könnten im neuen Jahr richtig groß rauskommen, wenn der 80. Geburtstag eines ihrer früheren Bewohner begangen wird. „Im Heiner-Müller-Jahr haben wir jede Menge Aktionen geplant“, verspricht Ute Müller-Tischler.

„Im Gelände“. Zeichnungen von Johannes Buchholz und Fotos von Luise Wagener: bis 9. Januar in der Galerie im Ratskeller Lichtenberg, Möllendorff- str. 6, Mo–Fr 10–18 Uhr, S- und U-Bahn Frankfurter Allee, www.-kultur-in-lichtenberg.de