„Beschnittene sind nervöser“

Hanny Lightfoot-Klein ist die Mutter der Beschneidungsforschung. Beschneidung ist für sie kein Thema, das auf Afrika begrenzt ist. Sie kämpft gegen Männer- und Frauenbeschneidung – obwohl: „Natürlich ist es bei Frauen viel fürchterlicher.“ Ein Interview über die Ungleichgewichte des Schreckens

„Ohne Beschneidung wirst du wie eine Hündin. Du kannst dir nicht helfen“

Interview HEIDE OESTREICH

taz: Wir verorten genitale Verstümmelung vor allem in Afrika. Sie weisen das zurück, warum?

Hanny Lightfoot-Klein: Weil Genitalverstümmelung auch in Europa und in den USA vorkommt. Wenn Babys, die mit beiderlei oder unklaren Geschlechtsteilen geboren wurden, sofort operiert werden, obwohl ihre Identität noch nicht feststeht, oder männliche Babys routinemäßig in Krankenhäusern beschnitten werden, gilt das in den USA als völlig normal. Genauso ist es in einem großen Teil Afrikas völlig normal, die weiblichen Genitalien wegzuschneiden. Fast alle Afrikanerinnen, mit denen ich sprach, fanden es fürchterlich, dass ich nicht beschnitten bin. Sie haben mich oft sehr bedauert. Bei Brustverkleinerungen oder Vergrößerungen hingegen habe ich von afrikanischen Menschen schon oft gehört: „Wie können sie in eine Brust hineinschneiden! Die Brust ist doch heilig, die gibt Leben!“

In Europa und Amerika wurden im 19. Jahrhundert auch Frauen beschnitten, behaupten Sie. Haben Sie Hinweise darauf gefunden, dass das tatsächlich eine gängige Praxis war?

Es waren hunderttausende von Menschen beiden Geschlechts, an denen damals herumgeschnitten wurde. Die Klitoris- und die Vorhautentfernung wurden als Mittel gegen die Masturbation in anerkannten Medizinjournalen ganz stark empfohlen. Auch die Eierstockentfernung – gegen Hysterie und „Nyphomanie“ – war eine gängige Praxis. Als sich dann nach einem halben Jahrhundert herausstellte, dass es keinen medizinischen Grund gibt, die Klitoris oder die Eierstöcke zu entfernen, hat man diese Praxis aus dem historischen Gedächtnis gestrichen: Es war peinlich, dass hunderttausende von Verstümmelungen völlig sinnlos praktiziert wurden.

Wie erklären Sie sich diese Vorliebe für Grausamkeiten an Genitalien auf der ganzen Welt?

Mir wurde von einer afrikanischen Ethnie erzählt, die den Heranwachsenden einen Hoden abschneidet – als Initiation. Exakt dasselbe erzählen Überlebende aus einem der Konzentrationslager. Dieser Naziarzt schnitt den Juden einen Hoden weg und sagte: „Warte. Bald kommt der andere auch noch dran.“ Die Vorhautbeschneidung von Säuglingen ist eine Kastration geringen Grades. Im Nervensystem wird das genauso empfunden. Mit der Angst vor der vollen Kastration erzeugt man Gehorsam. Besonders dann, wenn diese Drohung in einem Alter stattfindet, in dem das Kind noch nichts versteht und nur fühlt. Das macht die Angst um so mächtiger, sie beherrscht das gesamte Leben.

Über die psychischen Spätfolgen der Beschneidung hört man wenig.

Es gibt auch kaum Forschung dazu. Deshalb berichte ich über meine eigenen Beobachtungen der letzten 25 Jahre: Ein beschnittenes Kind weiß nicht, wofür es bestraft wurde. Aber es ist gezeichnet. Es ist nicht schwer zu erkennen, ob ein Mädchen beschnitten ist. Es hat nicht mehr diese großen, kugelrunden neugierigen Augen. Die Augen werden flach, ausdruckslos. Das innere Licht ist erloschen. Es ist nicht mehr dasselbe Kind wie vorher. Die Gehirnstruktur ändert sich bei Folter. Bei männlichen Neugeborenen ist es auch so: Intakte Babys sind ruhiger. Beschnittene sind öfter hyperaktiv, nervös, weinen viel, verweigern die mütterliche Brust.

Es sind Ihnen Frauen begegnet, die sich glücklich priesen, weil sie glatt und beschnitten sind. Die auch ein erfülltes Sexualleben hatten. Wie erklären Sie denen Ihre Arbeit?

Da sage ich: Na ja, da haben Sie Glück gehabt. Und ein erfülltes Sexualleben hat viel mehr mit Liebe zu tun als mit erregbaren Sexualzonen. Im Übrigen ist nicht alles erregbare Gewebe weg, manchmal wird der Nervenstumpf, der übrig bleibt, sogar noch empfindlicher – bis er über die Jahre von Narbenformationen überwachsen wird. Auch kommt die Gehirnwäsche dazu: „Ohne Beschneidung wirst du wie eine Hündin. Du kannst dir nicht helfen und musst dich mit jedem Mann hinlegen. Du wirst stinken, du kannst nie heiraten.“ Da ist man natürlich glücklich, Beschneidung überlebt zu haben, egal, wie viele Schmerzen es bereitet. Wenn ich aber erkläre, dass bestimmte Frauenbeschwerden mit der Beschneidung zusammenhängen und überhaupt nicht natürlich sind, dann denken sie oft schon ganz anders. Dann erzählen sie plötzlich von ihrer Schwester oder ihrer Kusine, die verblutet ist. Aber was können sie schon tun? Es muss doch gemacht werden. Sonst sind sie keine anständigen Frauen mehr. Bei den Gebildeten wird inzwischen schon öfter eine Beschneidung vorgetäuscht, um den Schein zu wahren.

Provokant wirkt, dass Sie der Beschneidung von Männern viel Raum in Ihrer Arbeit geben. Kann man männliche und weibliche Beschneidung tatsächlich vergleichen? Gibt es nicht einen Unterschied an Komplikation, Schmerz, Lebensgefahr?

Wir reden ja nicht über Männer und Frauen. Wir reden über kleine Babys. Es ist doch eine Wunde, die man einem Baby zufügt, das nichts versteht. Stellen Sie sich vor, dass Sie mit einer Wunde an ihrer empfindlichsten Stelle in einer Windel voll Urin liegen. Dass Sie Urin durch diese geschwollene Wunde quetschen müssen. Je länger man versucht, den Urin zurückzuhalten, desto konzentrierter und ätzender wird er. Wie dann so ein Schnitt in die Genitalien genau geführt wird, bei Mädchen oder Jungen, ist für den Schmerz des Kindes egal. Und bringt uns dieser Wettbewerb des Leidens wirklich weiter? Natürlich ist es bei Frauen viel fürchterlicher und es wird viel mehr abgeschnitten. Aber wenn eines fürchterlicher ist als das andere, dann ist das andere doch immer noch fürchterlich.

Viele Männer berichten von Vorteilen der Beschneidung: besserer Sex etwa, weil die Eichel unempfindlicher ist und man deshalb länger durchhält.

Eigentlich habe ich noch nie von einem beschnittenen Mann gehört, dass Sex durch die Beschneidung besser wird. So etwas hört man nur von einem Mitglied der Beschneidungsindustrie, der um Kunden wirbt. Im Großen und Ganzen berichten beschnittenen Männer genau das Gegenteil. Dass ihre Eichel abgestumpft ist und Sie kein sexuelles Erlebnis haben. Dass Sie tief traumatisiert sind. Sie können nicht lieben, anderen Menschen nicht vertrauen.

Sie arbeiten in den USA: Wie viele Männer sind dort beschnitten?

Bis 1980 wurden neunzig Prozent der Männer beschnitten. 1980 erschien das erste Aufklärungsbuch von Edgar Wallerstein über die Mythen und Traumata der Beschneidung. Amerikaner erkannten zum ersten Mal, dass nicht die ganze Welt Jungen beschneidet. Genauso wie die Afrikaner oft denken, dass alle Frauen auf der Welt beschnitten sind, gingen die Amerikaner davon aus, dass alle Männer beschnitten sind. Die Anzahl der Beschneidungen ging danach auf 60 Prozent zurück. Jetzt versuchen wir, auf die Krankenkassen einzuwirken: Wenn sie die 900 Dollar für eine Beschneidung nicht mehr zahlen, überlegen sich die Leute die Prozedur plötzlich genauer. Als England Ende des Zweiten Weltkrieges die Beschneidung aus dem Katalog des staatlichen Gesundheitssystems nahm, sanken die Beschneidungen innerhalb von nur zwei Jahren von 90 auf 2 Prozent.

Würden Sie, quasi als Kompromiss, fordern, dass die Beschneidung nur noch ab 18 durchgeführt werden darf? Und dann jeder selbst entscheiden kann?

Ja, das versuchen Ärzte, die Mädchen nicht beschneiden wollen, die an die Intaktheit von Mädchen glauben. Wenn die Eltern auch im Zweifel sind, raten sie: Es wäre besser, wenn die Entscheidung nicht bei der Großmutter liegt, sondern bei dem Kind.

Wie viel nützt ein staatliches Verbot?

Ein Gesetz zu haben ist nicht schlecht. Wenn ein Kind etwa gegen den Willen der Eltern beschnitten wird, dann kann man die Verantwortlichen bestrafen. Man kann aber von Analphabeten, die keine Ahnung haben, dass so ein Gesetz existiert, nicht viel erwarten. Außerdem: Wenn jeder beschneidet, sogar der Chef des Dorfes, dann hat das Gesetz keinen Wert. Aber es hat Potenzial, denn wer weiß, was in der Zukunft noch kommt.