„Eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung ist sinnvoll“, sagt Ingolf Pernice

Wir brauchen ein Plebiszit über die EU-Verfassung – nicht in nationalem, sondern in europaweitem Rahmen

taz: Herr Pernice, Sie und mehr als dreißig weitere deutsche Verfassungsrechtler fordern eine Volksabstimmung über die geplante EU-Verfassung. Warum? Glauben sie, dass diese ohne Plebiszit nicht wirksam werden kann?

Ingolf Pernice: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber wir weisen auf eine europäische Verfassungstradition hin, wonach die Bürger in der Regel auf zwei Wegen an der Verfassungsgebung mitwirken. Entweder sie wählen die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung – was beim EU-Verfassungskonvent nicht der Fall war – oder sie stimmen später über die neue Verfassung ab.

Diesen Anforderungen wird aber auch das Grundgesetz nicht gerecht. Weder wurde der Parlamentarische Rat 1948/49 vom Volk gewählt noch gab es eine Volksabstimmung über das Grundgesetz.

Dennoch ist das Grundgesetz natürlich eine legitime Verfassung. Ich sage ja auch nicht, dass ein Plebiszit über die EU-Verfassung unbedingt sein muss. Es wäre aber wünschenswert – und zwar nicht nur aus juristischen, sondern auch aus erzieherischen Gründen.

Wie meinen Sie das?

Ein Referendum über die EU-Verfassung würde jeden Bürger mit der europäischen Realität konfrontieren, und jeder Politiker wäre gezwungen, zu erklären, wie die EU eigentlich funktioniert.

Das wäre dann ein Referendum über den Status quo und weniger über die neue EU-Verfassung?

Ich halte die Verfassung für einen guten Anlass für ein derartiges Referendum. Sie bringt ja auch einige Neuigkeiten und Verbesserungen. So wird unter anderem das Abstimmungsverfahren im Ministerrat neu geregelt, die Grundrechte-Charta wird verbindlich und die bisherigen Verträge werden zu einer recht übersichtlichen Verfassung zusammengefasst. Und wenn diese davon spricht, sie sei „im Namen der Bürgerinnen und Bürger“ ausgearbeitet worden, dann sollten diese doch auch gefragt werden.

Sollen die Bürger eine derart symbolische Volksabstimmung ernst nehmen? Wenn das Plebiszit verloren geht, macht es doch keinen großen Unterschied.

Es stimmt, die EU könnte und müsste auch ohne die neue Verfassung weiterarbeiten. Die bisherigen Verträge sind ja faktisch schon eine „Verfassung“. Dennoch würde ein „Nein“ der Bürger natürlich ein politisches Erdbeben auslösen und die Politik zwingen, die Vorteile der EU-Integration – Frieden, Wohlstand und weltpolitischer Einfluss – noch viel intensiver zu vermitteln.

Wie stellen Sie sich eine Volksabstimmung konkret vor?

Ich halte ein europaweites Referendum für angemessen.

Warum?

Die jeweils nationale Opposition soll keinen Anreiz haben, ihrer Regierung eine Niederlage beizufügen. Bei einem europaweiten Referendum wüsste man schließlich nicht, wie in den einzelnen Staaten abgestimmt wurde.

Bei der Bundestagswahl wird das Ergebnis jedes Stadtteils veröffentlicht. Dann wird es bei einem EU-Referendum ja wohl nationale Ergebnisse geben …

Das sollte man aber besser vermeiden.

Es gibt doch auch Meinungsumfragen, man wird also immer ungefähr wissen, wie die nationale Stimmung ist. Schadet es dann nicht der Legitimation der EU-Verfassung, wenn sie zum Beispiel mit den Stimmen aus den großen Staaten beschlossen würde, während die Bürger aus den kleinen Staaten überwiegend dagegen stimmen?

Diese Gefahr sehe ich nicht. Auch die Verfassung wäre ein Vertrag, dem die Regierungen und Parlamente aller EU-Staaten zustimmen müssten. So ist gewährleistet, dass kein Staat übervorteilt wird. Eine Volksabstimmung würde dieses Verfahren nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.

Müsste für ein europaweites Referendum das Grundgesetz geändert werden?

Nein. Dies könnte in der neuen EU-Verfassung geregelt werden. Es müsste nur ein Passus eingefügt werden, dass nach der üblichen Ratifikation noch ein europaweites Referendum stattzufinden hat.

Es ist unwahrscheinlich, dass sich die EU-Regierungen darauf einstimmig einigen. Würden Sie auch eine deutsche Volksabstimmung über die EU-Verfassung befürworten?

Ja. Ich halte das zwar nur für die zweitbeste Lösung, aber auch so könnte Europa jedenfalls den deutschen Bürgern näher gebracht werden.

Für ein nationales Referendum wäre aber eine Grundgesetzänderung nötig?

Ja.

Die Bundesregierung behauptet, dass dies zu lange dauern würde …

Wenn Bundestag und Bundesrat sich einig sind, kann das ganz schnell gehen. Auch vor der Zustimmung zum Maastricht-Vertrag wurde 1993 das Grundgesetz geändert und dabei für die Ratifizierung mindestens eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat gefordert.

Ist Ihre Position typisch für die deutschen Staatsrechts-Professoren?

Es gibt wohl zwei Lager, die einen halten eine Volksabstimmung für sinnvoll oder sogar notwendig, die anderen nicht. Und auch die Unterzeichner des Aufrufs für eine Volksabstimmung sind eine recht heterogene Gruppe.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH