: Universalistisch, aber katholisch
Europas neuer Antisemitismus (3): Die Mitgliedschaft in der EU dürfte der polnischen Gesellschaft helfen, ihre schizophrene Haltung gegenüber den Juden zu überwinden
Juden und Polen: Es gibt wohl kaum eine schwierigere Debatte. Sie ist belastet durch tiefe Komplexe, Vorurteile und oft auch eine gegenseitige Unkenntnis, wie sie nur unter engen Nachbarn möglich ist, die über Generationen nebeneinander lebten, aufeinander angewiesen waren und oft dennoch kaum Notiz voneinander nehmen wollten. Die Besonderheit dieser Beziehung beruht darauf, dass bis zum 18. Jahrhundert die Mehrheit der europäischen Juden in Polen-Litauen als ein eigener Stand mit eigener Selbstverwaltung und einer reichen Kultur lebte.
Die damalige Geschichte der Juden in dieser Region war natürlich nicht frei vom üblichen christlichen Antijudaismus, von Ritualmordbeschuldigungen, auch nicht von Konkurrenzkämpfen und lokaler Intoleranz, doch bis zum Chmielnicki-Aufstand in der Ukraine im 17. Jahrhundert war die Res publica ein Zufluchtsort für die aus Westeuropa vertriebenen Juden. Darauf bauen bis heute viele Polen ein Selbstbild eigener Toleranz und eines „Staates ohne Scheiterhaufen“.
Mit dem Verlust der eigenen Staatlichkeit 1795 pervertierte auch das polnische Selbstverständnis zu dem einer von außen – durch Deutsche und Russen – und eben auch von innen – durch die Juden – in ihrer nackten Existenz bedrohten Nation. Die Nationaldemokraten predigten einen „gesunden nationalen Egoismus“ und wünschten sich einen national und konfessionell homogenen, also katholischen, polnischen Staat herbei. Die Sozialisten stellten sich dagegen eher eine Fortsetzung der alten multiethnischen und multikulturellen Rzeczpospolita vor.
Doch nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 prallten auch in Polen die Nationalismen – der junge polnische und der entstehende jüdische – mit aller Wucht aufeinander. Die Nationaldemokraten bauschten die „jüdische Frage“ zum innenpolitischen Grundproblem Polens auf, und die Radikalsten von ihnen forderten eine Vertreibung der drei Millionen polnischen Juden „nach Madagaskar“. Die Obristen-Regierung gab dieser Stimmung nach; man übernahm zwar keine Rassengesetze, ließ aber ganz offiziell einen wirtschaftlichen Boykott und einen Numerus clausus zu, der die Zahl der Studenten aus den ethnischen Minderheiten an den Hochschulen festlegte.
Der polnisch-jüdische Konflikt, stellte Norman Davies fest, wurde nicht durch Anstrengungen beider Seiten gelöst, sondern aufs Schrecklichste durch Hitlers „Endlösung“. Auf diese Weise, so Henryk Szlajfer 1992, „entging die polnische Gesellschaft der Verantwortung für das weitere Schicksal der drei Millionen Menschen zählenden jüdischen Gemeinschaft (…). Diese ‚ungeschriebene Geschichte‘ erwies sich jedoch sowohl als Segen wie auch als Fluch der Nachkriegspolen und beeinflusste auch den Charakter des modernen Antisemitismus. Denn die Verbrechen Hitlers und die Beschlüsse von Jalta, die Stalins territorialen Eroberungen und den Satellitenstatus Polens sanktionierten, gestatteten es, keine Anstrengung zum Überdenken der eigenen nationalen Geschichte zu unternehmen“, und dazu gehörten sowohl die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen und die Verstreuung der Ukrainer über ganz Polen, als auch die, gelinde gesagt, distanzierte Haltung vieler Polen gegenüber der Vernichtung der polnischen Juden durch die deutschen Besatzer. Man erwähnte zwar die kollaborierenden „Szmalcownicy“, man verurteilte die 1941 am Pogrom in Jedwabne beteiligten Polen, doch wirkliches Mitgefühl für die ermordeten jüdischen Bürger fand kaum Platz in der kommunistische Erinnerungskultur.
Der Kommunismus schläferte quasi den klassischen Antisemitismus der Vorkriegszeit ein und reaktivierte ihn zugleich als ein Vehikel des antiliberalen „Nationalkommunismus“. Sowohl 1956 als auch 1968 wurde die alte Unterstellung erhoben, die Juden hätten gegen die Polen sowjetische Interessen vertreten.
Die antikommunistische Bürgerbewegung der 80er-Jahre hatte in Polen zwei starke Grundströmungen und strebte zwei unterschiedliche Ziele an: eine universalistische europaoffene Zivilgesellschaft auf der einen Seite und auf der anderen einen katholischen Staat polnischer Nation, in den auch die fremdenfeindliche Ideologie der Nationaldemokraten nahtlos passte. Somit ist auch nach 1989 der Antisemitismus Teil der polnischen politischen Szene geworden.
Einerseits prägten die öffentlichen Debatten der 90er-Jahre eine schonungslose Auseinandersetzung sowohl mit dem tradierten bäuerlich-katholischen wie mit dem intellektuell versierteren Antisemitismus – die Jedwabne-Debatte war der Höhepunkt dieser Tendenz. Andererseits wimmelte es von antisemitischen Publikationen marginaler Gruppen, die meist erfolglos mit Judenhass auf Stimmenfang gingen. Die politische Klasse scheint unschlüssig. Auf der einen Seite kann man in rechten Blättern auch die Namen bekannter Autoren finden, werden Wandschmierereien geduldet und verschlägt einem Ausländer die Tumbheit, mit der der Volksmund ungehemmt von einer jüdischen Weltverschwörung faselt, geradezu die Sprache. Auf der anderen Seite gehört es „in den Salons“ zum guten Ton, Antisemiten zu ächten. In den seriösen Medien und Verlagen nimmt die „Bewältigung der Vergangenheit“ weiterhin einen ansehnlichen Platz ein.
Und dennoch gibt es Gründe zur Beunruhigung. Meinungsumfragen belegen, dass zu Beginn der 90er-Jahre zwar die Ablehnung der Juden in Polen merklich geringer wurde, doch in allerletzter Zeit die Fremdenfeindlichkeit, und damit auch antijüdische Emotionen, wieder zunahm. Der Grund sind die schwierigen Beitrittsverhandlungen und sozialen Unsicherheiten, die die Mitgliedschaft Polens in der EU zur Folge haben wird. Besonders die Eigentumsfrage verunsichert die Menschen in vielen Kleinstädten Ost-und Zentralpolens. Der Albtraum, „vertrieben“ zu werden und obendrein noch an das jüdische Martyrium der Schoah und der eigenen Gleichgültigkeit dabei erinnert zu werden, verbindet wohl Angstzustände mit verdrängten Gewissensbissen oder zumindest mit einem moralischen Unbehagen. Diese diffusen Stimmungen versuchen wiederum populistische Gruppierungen in eine Trotzreaktion umzumünzen. Mit Erfolg, wie das erstarkende Spektrum rechter Gruppierungen zeigt.
Das Fazit ist aber nicht eindeutig. Die Meinungsumfragen belegen eine Polarisierung der polnischen Gesellschaft. Sowohl die Zahl der erklärten Antisemiten steigt als auch die Zahl derjenigen, die gänzlich frei sind von antisemitischen Anwandlungen. Die Mitgliedschaft in der EU dürfte der polnischen Gesellschaft allerdings dabei helfen, diese innere Schizophrenie zugunsten eines aufgeklärten Zusammenlebens mit allen äußeren und inneren Nachbarn, nicht nur den Juden, zu überwinden.
ADAM KRZEMIŃSKI