: Die hanseatische Tradition
Wenn morgen Polen und das Baltikum der EU beitreten, werden auch die alten Hansestädte an der Ostsee wieder Teil der Union. Die Hanse war das Fundament europäischen Handels, als Vorbild für die Europäische Union taugt sie aber nicht
von HANS WILLE
Um klangvolle Städtenamen wie Gdansk (Danzig), Riga oder Tallinn (Reval) wird morgen die EU erweitert. Einst waren sie Mitglied der Hanse, jener ersten paneuropäischen Handelsepoche, in der unser Kontinent zusammenwachsen konnte. Nach rund 700 Jahren binden sich die Hansestädte des Baltikums wieder an Europa. Hat die Hanse das Fundament gelegt, auf dem wir heute das Haus Europa bauen?
Im Sommer 1991 ist der große Moment: Kapitän Möller aus Bremerhaven befehligt als erster Schiffsführer seit Jahrhunderten wieder eine Hansekogge durch internationale Gewässer. Die Kogge kann sogar ihre originäre Handelsroute von Bremen nach Danzig befahren. Damit setzt die „Ubena von Bremen“ lange vor der EU ein symbolisches Zeichen der Annäherung zwischen Ost- und Westeuropa.
Am Anfang ist der Hering
Ohne Hunderte von Koggen, die Hunderttausende Tonnen von Waren verschiffen, ist die Hanse nicht denkbar. Getrieben vom Hunger und vom Glauben ihrer Landsleute segeln Fernhändler aus Westfalen und Niedersachsen im 12. Jahrhundert über die Ostsee auf die schwedische Insel Gotland. Sie organisieren sich genossenschaftlich und nennen sich „Hansa Alemaniae“ Hansa bedeutet „Schar“ im Gotischen. Mit sich bringen die Händler der „Deutschen Hanse“ Salz aus Lüneburg, vor Ort kaufen sie den Fischern gewaltige Mengen Hering ab, die sie mit dem Salz konservieren und dann in ihre Heimat liefern.
Der Heringshandel floriert prächtig und wird zur Grundlage des Erfolgs der Hanse. Er beinhaltet schon die internationale, die europäische Dimension, verknüpft allerdings nur linear die Regionen Lüneburg, Gotland und die Heimat der Kaufleute. Ein flächendeckender Handel quer durch den Kontinent, wie wir ihn heute in der Europäischen Union kennen, entwickelt sich erst mit der Erschließung Skandinaviens und der Eroberung Osteuropas durch den Deutschen Orden.
Im Windschatten der Kreuzritter lassen sich Hansekaufleute in slawischen Siedlungen nieder, gründen dort Marktplätze und etablieren die deutsche Sprache. Wie auf einer Perlenkette aufgereiht liegen östlich von Lübeck die ab dem 13. Jahrhundert gegründeten Hansestädte Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Stettin, Kolberg, Danzig, Elbing, Königsberg und Memel.
Jetzt setzt ein schwunghafter Handel ein: Aus dem riesigen fruchtbaren Hinterland der neuen Städte fließt ein schier unerschöpflicher Nachschub an Getreide, den die Koggen in den Westen bringen. Aus Russland kommen Pelze, Trockenfisch aus Norwegen, Erze aus Schweden und die Salzheringe aus Schonen. Im Gegenzug gelangen Waren aus dem Westen nach Skandinavien und dem Baltikum: Wolle aus England, Bier aus Hamburg, Tuche aus Flandern.
Hansische Kaufleute sind die ersten, die Überschüsse aus einer Region in einer anderen an den Mann bringen. Oftmals schaffen sie erst die Nachfrage nach dem Gut. Und sie sind die ersten, die Geld investieren, um mehr Geld damit zu verdienen. Die Hansekaufleute sind die Gründerväter des Kapitalismus, auf dem heute die EU fußt: Auf Marktwirtschaft, Arbeitsteilung und Konsum.
Ab Mitte des 14. Jahrhunderts geben die reichen und selbstbewussten Kaufleute das Reisen auf, lassen sich in den Städten nieder und gehen als Ratsherren in die Politik. Auf dem Hansetag 1356 vereinbaren die Städte eine engere Zusammenarbeit, nun spricht man von der Städtehanse. Die Zahl der freiwilligen Mitglieder klettert auf fast 200 Städte; die Hanse ist auf dem Zenit ihrer ökonomischen Macht angekommen. Sie dominiert den ersten europäischen Markt und besitzt nahezu das Handelsmonopol auf beiden Meeren.
Lübeck als Zentrum
Dreh- und Angelpunkt dieser New-Economy-Erfolgsstory ist Lübeck; hier kreuzen sich fast alle Warenströme. Die Stadt hat eine zentrale geografische Lage am europäischen Festland, an der Ostsee und nah an Hamburg, dem Hafen zur Nordsee und zugleich nah an Skandinavien. Lübeck nutzt seine Lage und schwingt sich zur Führerin des Städtebundes auf. Dort finden die Hansetage statt, auf denen allen Kaufleuten Rechtsschutz und Handelsfreiheit gewährt werden. Auch einigt man sich auf die Lübische Mark als Währung.
Eine Währung für alle kennen wir auch in der EU, ebenso verbindliches Recht für alle. Aber daraus den Schluss zu ziehen, die Hanse habe ähnlich der EU die freie Wirtschaft propagiert, wäre verfehlt: Die Freiheit gilt nur nach innen. Jenseits ihrer Hemisphäre agiert die Hanse protektionistisch. Engländern, Friesen und Flamen verbietet sie den Weg durch die Ostsee; die Goten dürfen nicht in die Nordsee. Wer ihnen den Reichtum streitig zu machen droht wie die Vitalienbrüder des Klaus Störtebeker, wird unnachsichtig verfolgt. Jedes nichthansische Schiff muss unbeladen einen Hansehafen verlassen. Die Privilegien der Hanse sind höchstes Gebot, nicht der Gedanke von gleichem Recht für alle, den die EU festschreibt.
Nicht der einzige Unterschied zur EU: So integrieren sich Polen, Estland, Lettland und Litauen mit ihren alten Hansestädten freiwillig in die Organisation. Die Hanse setzt dagegen rücksichtslos Zwangsmittel ein, um territoriale Ansprüche durchzusetzen. Als die Norweger sich gegen die Handelsübermacht der Hanse auflehnen, um selber Waren in ihr Land zu importieren, stoppt die Hanse sämtliche Getreidelieferungen, wohl wissend, das schon bald eine Hungersnot im Land herrschen würde.
Die Hanse war allgegenwärtig, ohne wirklich greifbar zu existieren. Sie ist ein reiner Zweckverband ohne echte politische Macht, mit dem sich die kleine Schicht der Kaufleute ihren Vorteil gegen Konkurrenten sichert. In Deutschland wird die Hanse gerne als europäische Großtat gesehen, als Symbol für die Einheit des Ostseeraumes. In dem Wort Hanse klingen Begriffe wie Weltoffenheit, Völkerverständigung und Internationalität mit. Mit dem Kunstwort „Hanseat“, zur Zeit der Hanse im Übrigen unbekannt, adeln sich gerne die Bürger von Lübeck, Hamburg, Bremen, Rostock, Wismar und Stralsund, die auch stolz das H wie Hansestadt im Autokennzeichen tragen.
In Skandinavien und auch im Baltikum dagegen hat die Hanse eine deutlich negativeren Klang, durchaus verbunden mit Imperialismusvorwürfen gegen Deutschland. Deutsche Kaufleute gründen und dominieren die Hanse. Sie schwingen sich in bestehenden slawischen und skandinavischen Siedlungen zu den Herrschern auf. Ihre Währung aus Lübeck wurde Einheitswährung, und ihr Niederdeutsch stülpten sie allen als alleinige Handelssprache auf. Einheimische Kaufleute durften sich nicht am Hansischen Handel bereichern, und Widerstand gegen die neuen Herren wurde mit Gewalt niedergemacht.
Ein fragiles Gebilde
Wie ein Hurrikan über eine Strohhütte fegt der globale Aufbruch des 16. Jahrhundert die Hanse hinweg: Die Engländer und Holländer werden Großmächte, die sich nicht mehr gängeln lassen. Von Süden her schwächen die aufstrebenden Fürstenhäuser der Fugger und der Welser die Position der Hanse. Jetzt wird offenbar, dass die Hanse ein fragiles Gebilde ohne politische Macht ist. Die meisten Mitglieder kehren dem Bündnis den Rücken, während sich die verbliebenen neun Besucher des letzten Hansetages von 1669 mit sturem Trotz weigern, die bedeutungslose Hanse aufzulösen.
In der Hanse galten weder Gleichberechtigung noch Chancengleichheit. Genau diese Werte aber sind grundlegend für das Selbstverständnis der demokratischen EU. Also hat die Hanse nicht das Fundament gelegt, auf dem wir das moderne Europa bauen können.
Die Hanse als Vorbild für die EU zu bejubeln, ist also nicht angebracht, trotzdem: Ohne die Hanse würden Städtenamen wie Gdansk, Riga und Tallinn nicht die EU bereichern.
Es gäbe sie gar nicht.