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Archiv-Artikel

Nationalstaat zerfasert

Deutschlands einziger politikwissenschaftlicher Sonderforschungsbereich analysiert vom kleinen Zwei-Städte-Staat Bremen aus die globalen Probleme von „Staatlichkeit im Wandel“

taz ■ Es war ein großer Tag für die Politikwissenschaft: Im Januar wurde in Bremen der derzeit einzige Sonderforschungsbereich (SFB) eingeweiht, in dem die Vertreter dieser (Sozial-)Wissenschaft in Deutschland federführend wirken. 45 junge und 25 „nicht mehr ganz so junge“ WissenschaftlerInnen von Universität, Hochschule und privater International University Bremen (IUB) gehören dem neuen Think Tank an, der in 17 Einzelprojekten die „Zerfaserung der Staatlichkeit“ systematisch erforschen will – aus juristischer, soziologischer sowie politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive. Wie viel Macht und Einfluss, so fragen die ForscherInnen, hat der Nationalstaat überhaupt noch im Zeitalter der Globalisierung? Und inwiefern ist eine Politik, die nicht mehr nationalstaatlich entschieden wird, überhaupt noch demokratisch legitimiert?

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat zunächst Zuschüsse für vier Jahre genehmigt. Wenn die Begutachtung durch unabhängige ExpertInnen gut verläuft, könnten bis zu zwölf Jahren draus werden. Für die Uni Bremen, an der bereits sieben Sonderforschungsbereiche angesiedelt sind, ist „Staatlichkeit im Wandel“, so der offizielle Name des SFB, der erste sozialwissenschaftliche Forschungsschwerpunkt. Eine Million Euro soll pro Jahr in den neuen Bereich fließen, neben der DFG geben die beteiligten Hochschulen und das Land Bremen „Komplementärmittel“ dazu. „Allein aus unserem Grundetat könnten wir derzeit diese Qualität der Forschung gar nicht bezahlen“, so Uni-Rektor Wilfried Müller.

Der Bremer Politikprofessor Michael Zürn, einer der Sprecher des SFB, stellte bei den solennen Eröffnungsfeierlichkeiten im Konzerthaus „Glocke“ das neue Forschungsfeld inhaltlich vor. Die Forscher konzentrierten sich auf den „Demokratischen Rechts- und Interventionsstaat“, den unter anderem Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimation und Interventionsfähigkeit ausmachten, so Zürn. Zwar sei die Rede vom „Ende des Nationalstaates“ überzogen, doch stehe der Staat vor „fundamentalen Herausforderungen der Globalisierung und der politischen Internationalisierung“. Die nationalstaatlichen Parlamente in Europa befassten sich heute zu 30 bis 50 Prozent nur noch mit Vorlagen, die bereits auf EU- oder internationaler Ebene ausgehandelt worden seien. „Bei jeder zweiten Vorlage degeneriert das nationale Parlament vom Beschluss- zum Vollzugsorgan“, so Zürn. Auch seien viele relevante politische Entscheidungen „längst aus dem staatlichen Gehäuse“ verschwunden. Es gebe mithin „keinen traditionellen, hierarchisch regierenden Vater Staat mehr“. Viele ehedem staatliche Aufgaben würden längst von privaten Akteuren übernommen – Zürn verwies etwa auf die Telekommunikation.

Bremens Regierungschef Henning Scherf (SPD) war stolz wie Oskar auf den neuen Bremer SFB. Gerade in Zeiten, in denen „alle auf die Natur- und Ingenieurwissenschaften setzen und die Politik- und Geisteswissenschaften hinten in der Ecke zu vergammeln drohten, säuselte Jurist Scherf, sei der SFB ein „ganz wunderbares, ein spektakuläres Signal“. Er hoffe, „dass Sie nicht nur Defizite entdecken, sondern auch mal einen probaten Vorschlag machen, den wir aufgreifen können“, wandte sich Scherf an die anwesenden WissenschaftlerInnen. Gerade das Land Bremen habe ja seine Erfahrungen mit Dezentralisierung und dem Auslagern (Outsourcing) ehedem staatlicher Aufgaben gemacht. Das führe natürlich zu einer „neuen Legitimationsproblematik“, räumte der Bürgermeister ein: „Wir haben ein Legitimationsleck, das man eigentlich gar nicht benennen darf, weil man sonst die Leute vergrault.“ Markus Jox