: Nerven wieder zusammengeflickt
Forschern gelang es, Mäusen mit durchtrenntem Rückenmark wieder das Laufen beizubringen
Einmal getrennt, nie wieder vereint – das gilt zurzeit bei Querschnittslähmung. Die Durchtrennung von Nervensträngen im Rückenmark hat eine lebenslange Lähmung zur Folge. Dies ist das Schicksal von etwa 250.000 Menschen in Europa, davon allein 40.000 in Deutschland. Dass dies in Zukunft möglicherweise nicht mehr unwiderruflich sein wird, zeigten Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Dem Forscherteam um Ana Martin-Villalba gelang es, eine Querschnittslähmung bei Mäusen wieder rückgängig zu machen und die Nagetiere zum Laufen zu bringen.
Wie die Wissenschaftler entdeckten, produzieren verletzte Nervenzellen einen Botenstoff, der anderen Zellen eine Nachricht übermittelt. Diese hat eine tödliche Wirkung: Sie löst ein Selbstmordprogramm benachbarter Nervenzellen aus, wodurch das verletzte Gewebe dauerhaft zerstört wird. Als Folge werden die Signalbahnen im Rückenmark unterbrochen. Die Steuerung von Organen und Bewegungen ist gestört, oft erloschen, und Rückmeldungen des Körpers über Wärme, Kälte oder Schmerz bleiben vom Nervensystem unbemerkt. Der Patient ist von der Verletzung abwärts gelähmt, und es besteht kaum Hoffnung für ihn, jemals wieder gehen zu können.
Indem sie das Selbstmordprogramm der Nervenzellen an seiner entscheidenden Stelle blockierten, schafften Ana Martin-Villalba und ihr Team es, diese Katastrophe zu verhindern.
Dazu setzten die Wissenschaftler einen Antikörper ein, das heißt ein von weißen Blutkörperchen produziertes Protein. Dieser Antikörper attackierte ausschließlich den molekularen Todeskurier – den Selbstmordbotenstoff CD95L – und zerstörte ihn.
Die mit dem Antikörper behandelten Mäuse, denen das Rückenmark durchtrennt worden war, erholten sich und gewannen einen großen Teil ihrer Mobilität wieder zurück. Ihre Artgenossen, die die Substanz nicht bekamen, blieben dagegen weiterhin gelähmt.
Im Mikroskop waren bei den behandelten Tieren wieder auswachsende Nervenfasern jenseits der Verletzungsstelle erkennbar. Zudem ließ sich nachweisen, dass die Antikörpertherapie das Absterben wichtiger Zellen verhinderte. Diese bauen eine elektrische Isolationsschicht längs jeder Nervenzelle auf und machen erst so eine gezielte Signalübertragung zwischen den einzelnen Nervenzellen möglich.
Dass sich verletzte Nervenzellen im Rückenmark auch beim Menschen wieder regenerieren können, ist der Wissenschaft schon seit längerem bekannt. Allerdings reichte die Stärke der Regenerationsfähigkeit bislang nicht aus, um eine Heilung der Querschnittslähmung möglich zu machen. Martin-Villalba geht davon aus, dass wertvolle Zeit gewonnen wird, wenn der Selbstmordbotenstoff gebremst wird: „In dieser Zeit können sich die geschädigten Nervenzellen wieder erholen. Ein weiterer großer Vorteil unserer Methode: Sie verringert die Anzahl der abgestorbenen Zellen, die die Nervenbahnen verstopfen.“
Dennoch äußerte sich die Wissenschaftlerin vorsichtig in Bezug auf den möglichen Behandlungserfolg beim Menschen. Da die Folgen einer Rückenmarksverletzung sehr komplex seien, könnten hierzu noch keine genauen Aussagen gemacht werden. Wahrscheinlich sei es jedoch möglich, die Methode mit anderen Therapien zu kombinieren. So besteht die Hoffnung, dass Gelähmte in Zukunft zumindest einen Teil ihrer Bewegungsfähigkeit wieder zurückgewinnen.
CLAUDIA BORCHARD-TUCH