Rollentausch der Dunkelmänner

Das Middle East Media Research Institute (Memri) mit Sitz in Washington weist auf Antisemitismus in arabischen Medien hin. In der öffentlichen Wahrnehmung des Nahostkonflikts spielt das Institut eine wachsende Rolle. Doch es ist nicht unumstritten

VON JAN-HENDRIK WULF

Der auf dem Tisch gefesselte Mann röchelt nach Wasser. Mit Eisenzangen öffnen ihm seine Peiniger den Mund und flößen ihm geschmolzenes Blei ein. Dann werden dem Mann die Ohren abgeschnitten, zu guter Letzt durchtrennt man ihm die Kehle. Die Henkersknechte sprechen Arabisch, sind aber mit ihren schwarzen Hüten, Bärten und Schläfenlocken unschwer als orthodoxe Juden zu erkennen. Zu sehen waren diese Splatterszenen in Episode sechs der 29-teiligen Fernsehserie „al-Schattat“ („Die Diaspora“), die im November 2003 zum Ramadan allabendlich über den libanesischen Satellitensender der Hisbollah, al-Manar („Der Leuchtturm“), in der Region ausgestrahlt wurde.

Die – möglicherweise durch den Tarkowski-Film „Andrej Rubljow“ – inspirierte Gewaltszene, in der ein durch falsche Heirat abtrünnig gewordener Jude von einem heiligen Talmud-Gericht zu Tode gebracht wird, unterscheidet sich von vergleichbaren B-Movies nur durch die politische Botschaft: „al-Schattat“ zeichnet die Geschichte des Zionismus als Pandämonium finsterbärtiger Gesellen im Kampf um die Weltherrschaft. Folge 20 zeigte die Schächtung eines christlichen Knaben – das Blut läuft in den Bottich und wird später zu Matzen verbacken. Am Tage sendet al-Manar ein arabisches Kinder-, Nachrichten- und Unterhaltungsprogramm, nur unterbrochen von fortwährenden Drohungen in arabischer, hebräischer und russischer Sprache an die Bewohner Israels.

Der Nahostkonflikt hat sich längst zu einem Medienkrieg ausgeweitet. Doch abgesehen von den Nachrichtenbildern palästinensischer Selbstmordattentate und den israelischen Vergeltungsaktionen wissen die Menschen in der westlichen Welt nur wenig über die paranoiden Hass- und Gewaltfantasien, die unter den Konfliktparteien des Nahen Ostens das Bild von der Gegenseite prägen und zum festen Bestandteil der Medienberichterstattung und des Alltagsdenkens geworden sind. Schon aufgrund fehlender Arabischkenntnisse ist das Programm von „al-Schattat“ in Europa bislang weitgehend unbemerkt geblieben.

Dass es dabei nicht bleibt, das hat sich hat sich das Washingtoner Middle East Media Research Institut (Memri) auf die Fahnen geschrieben. Memri hat einige besonders schockierende Episoden von „al-Schattat“ mit englischen Untertiteln versehen und, auf Videokassetten gebannt, an ausgewählte Adressaten verteilt. Denn im Auge des westlichen Betrachters wechseln die Dunkelmänner ihre Rollen: Zielsicher fällt die Hass-Projektion von den bösen Weltverschwörern auf die Urheber der Sendung zurück. In Europa berührt es unangenehm, dass in der Levante die alten, antisemitischen Kamellen einer kulturell eigentlich längst überwunden geglaubten Epoche wieder aufgekocht werden. Inspiriert wurde der Orient darin durch Europa. Schon 1840 brachte das ungeklärte Verschwinden eines Kapuzinermönchs die Ritualmordlegende nach Damaskus: Die Kapuziner glaubten damals, ihr christlicher Betbruder sei meuchlings ermordet und zu jüdischem Osterbrot verbacken worden. Unter maßgeblicher Beteiligung des französischen Konsuls ließ der türkische Pascha einige Damaszener Juden verhaften und Geständnisse erpressen. „Während wir lachen und vergessen, fängt man an im Morgenlande, sich sehr betrübsam des alten Aberglaubens zu erinnern und gar ernsthafte Gesichter zu schneiden“, kommentierte Heinrich Heine damals den Fall.

Heute wird nicht mehr gelacht, sondern gehandelt. Vor allem in Frankreich ist das „Al-Schattat“-Video auf Resonanz gestoßen: Nachdem Premierminister Jean-Pierre Raffarin das Band gesehen hatte, wurden im Februar in der Nationalversammlung die Kompetenzen der französischen Medienaufsicht CSA erweitert und der Satellitenbetreiber Eutelsat aufgefordert, die europaweite Ausstrahlung von al-Manar einzustellen. Doch auch der deutsche Außenminister zeigte sich Anfang des Jahres bei einer Vorführung im Axel-Springer-Verlag von den antisemitischen Blutszenen angeekelt.

Der Gründer des Memri, Yigal Carmon, ist mit dem Resultat dieser Aufklärungsarbeit zufrieden: „Die Änderung des französischen Mediengesetzes zeigt, dass wir mit unserer Arbeit tatsächlich etwas bewirken können.“ Carmon ist gelernter Arabist und hat zwanzig Jahre lang für den Geheimdienst der israelischen Armee und die Besatzungsbehörde in den Palästinensergebieten gearbeitet. Unter den Ministerpräsidenten Jitzhak Schamir und Jitzhak Rabin war er Antiterror-Berater der israelischen Regierung. Nach seiner Pensionierung gründete Carmon 1998 das Memri mit Sitz in Washington und Jerusalem – und mit dem Ziel, den sprachlichen Graben zwischen westlicher Welt und Nahem Osten zu überwinden. In acht Sprachen, darunter Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch und Türkisch, macht das Institut arabische – und zum Teil auch israelische – Medienberichte per Internet zugänglich, um jenseits der Tagesberichterstattung in der westlichen Welt ein fundiertes Verständnis für die mentalen Unterströmungen in den am Nahostkonflikt beteiligten Ländern zu erzeugen.

Damit soll zum einen der Westen für die in der arabischen Welt kursierenden Feindbilder sensibilisiert werden; zum anderen aber auch in der arabischen Welt ein Bewusstsein dafür entstehen, dass diese Debatte auch anderswo zur Kenntnis genommen wird – was durchaus als Anregung zu selbstkritischer Überprüfung gemeint ist. „Ich trete regelmäßig bei al-Dschasira auf – nicht als Israeli, sondern als Leiter von Memri“, umreißt Carmon die Mittlerfunktion seines Instituts. Memri möchte dabei insbesondere jenen arabischen Stimmen der Zivilgesellschaft Rückhalt geben, die Friedens- und Menschenrechtsfragen thematisieren oder die zu demokratischen Reformen aufrufen, wie etwa der ägyptische Dramatiker Ali Salem.

So erfährt der interessierte Leser auf den Internet-Seiten von Memri (www.memri.de) von Buthaina al-Nasr, der ersten Fernsehmoderatorin Saudi-Arabiens, die seit Anfang des Jahres auf dem staatlichen Nachrichtensender al-Achbariya zu sehen ist. Im gleichen Bericht ist nachzulesen, dass der saudische Mufti Abd al-Asis al-Scheich daraufhin eine Fatwa gegen weibliche Berufstätigkeit herausgegeben habe. In eckigen Klammern vermerkt die Memri-Übersetzung, dass Fatwa „religiöses Rechtsgutachten“ heißt. Auf den amerikanischen Seiten (www. memri.org) wird man außerdem fündig, wenn man das mutmaßliche Al-Qaida-Bekennerschreiben zu den Anschlägen von Madrid nachlesen möchte. Einblicke in die arabische Stimmungslage der letzten Jahre, zwischen Paranoia und Opferdiskurs, gewähren ältere Beiträge im Archiv: So kolportierte die ägyptische Zeitung al-Ahram den Verdacht, dass libysche Kinder im Auftrag von Mossad oder CIA mit dem Aids-Virus angesteckt worden seien. Oder dass in der arabischen Welt ein israelisches Kaugummi zirkuliere, das impotent mache.

Neben solchen Fundstücken aus seriösen arabischen Printmedien wie der ägyptischen Zeitung al-Ahram oder al-Hayat mit Sitz in London lassen sich auf der Homepage auch eine Auswahl kurzer Fernsehbeiträge und antisemitischer Karikaturen aus arabischen Medien finden. Weiterhin erstellt Memri Expertisen zu arabischen Lehrplänen und Schulbüchern, zu Wirtschaftsfragen sowie zur Entwicklung von Antisemitismus und islamistischem Extremismus in den Gesellschaften der Region.

Wer sich als Benutzer registrieren lässt, dem werden die Neuigkeiten aus der arabischen Welt regelmäßig per E-Mail zugesandt. Laut Carmon hat das Interesse an dem kostenlosen Service von Memri kontinuierlich zugenommen: „Nach einem Jahr hatten wir 900 E-Mail-Abonnenten, heute sind es 50.000. Nach drei Jahren haben wir ein Büro in London eröffnet, ein Jahr später in Deutschland.“ Seit dem Ende des Irakkriegs gibt es auch eine Ein-Mann-Vertretung in Bagdad.

Das Memri-Büro in Berlin wurde im Februar 2003 eröffnet. Für den deutschsprachigen Informationsdienst per E-Mail haben sich bereits 3.000 Journalisten, Politiker, Wissenschaftler und Privatleute registrieren lassen. Rund die Hälfte der Berichte wird aus Washington übernommen. Doch die beiden Berliner Memri-Vertreter, die Politologin Mirjam Gläser und der Islamwissenschaftler Jochen Müller, setzen eigene inhaltliche Schwerpunkte und ergänzen das Angebot um Beiträge, in denen insbesondere die Beziehungen Deutschlands zum Nahen Osten thematisiert werden. Hier erfährt man von der nachsichtigen und zuweilen auch etwas ungeduldigen Polemik arabischer Leitartikler gegen das deutsche Verhältnis zu Israel – vor allem, wenn es dabei um Waffengeschäfte geht. Stets herzlich werden die Deutschen in der arabischen Presse dagegen ermuntert, sich vom Makel ihrer Geschichte zu befreien, um sich dem an Arabern begangenen Unrecht besser widmen zu können. Deutsche Journalisten nutzen das Memri gerne als Quelle – und oft, ohne es zu erwähnen. „Das ist schon lustig – manchmal wird passagenweise von uns abgeschrieben“, mokiert sich Jochen Müller.

Finanziert wird der ständig wachsende Service des Informationsdiensts ausschließlich durch Stiftungen und private Spenden aus den USA. Im politischen Leben der amerikanischen Hauptstadt hat sich Memri fest etabliert: Neben Kongressabgeordneten erscheinen zu den Veranstaltungen von Memri auch stets Vertreter der Botschaften Saudi-Arabiens und Ägyptens. Referiert haben die Memri-Mitarbeiter schon im US-Außenministerium sowie bei der Antiterror-Abteilung des FBI oder der New Yorker Polizei. Im Beirat des Instituts sitzen prominente Persönlichkeiten: Der Orientalist Bernard Lewis etwa, der ehemalige israelische Premierminister Ehud Barak, der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel und der amerikanische Irakbeauftragte Paul Bremer.

Die Neutralität des Memri wird von manchen in Zweifel gezogen: So räumte im englischen Guardian dessen Nahostkorrespondent Brian Whitaker im August 2002 zwar ein, dass die vom Memri gelieferten Übersetzungen korrekt seien. Aber er unterstellte dem Institut, mit der Auswahl seiner Quellen ein verzerrtes Bild der arabischen Öffentlichkeit zu zeichnen und damit einseitig die Politik Israels zu unterstützen. So mutmaßte Whitaker, dass der vom Memri veröffentlichte Bericht eines irakischen Arztes, der Militärdeserteuren auf persönlichen Befehl Saddam Husseins die Ohren habe abschneiden müssen, just zu einer Zeit lanciert worden sei, als es darum ging, die öffentliche Meinung auf einen Krieg gegen den Irak einzustimmen.

Doch wer würde ernsthaft erwarten, dass Informationen über die Nahostproblematik ganz ohne politische Absicht verbreitet würden? Yigal Carmon macht gar keinen Hehl daraus, dass die Memri-Beispiele aus arabischen Medien oft nicht sonderlich fröhlich stimmen: „Wenn man die Wahrheit spiegelt, ist das nicht optimistisch, sondern häufig ziemlich traurig. Wir spiegeln das Gute und das Schlechte. Es genügt uns aber, die liberalen Kräfte zu fördern, um so den innerarabischen Wandel zu unterstützen.“

Zweifelsohne spiegelt jede Wahrheit immer nur einen perspektivischen Teil der Nahost-Wirklichkeit wider. Jochen Müller fasst den Auftrag von Memri daher bescheidener: „Natürlich können wir nicht vollständig berichten. Deshalb nennen wir unsere Übersetzungen ,Schlaglichter‘. Wir wollen da keine Interpretation nahe legen. Die Skandalisierung ist nicht unsere Absicht: Was ein Skandal ist, muss der Nutzer letztlich selbst entscheiden.“

So wie im Fall von al-Manar.