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Archiv-Artikel

Wie immer, nur anders

1. Mai in Kreuzberg: Der Mainstream der Minderheiten verlustierte sich rund um den Mariannenplatz, vor den Polizisten rannte man weg oder man quatschte sie voll

VON DETLEF KUHLBRODT

Dass der 1. Mai dieses Mal auf einen Samstag gelegt wurde, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Bundesregierung Spaß daran hat, Arbeiterklasse, Niedriglohnempfänger, Arbeitslose, Studenten usw. zu verhöhnen. Gern wendet man sich gegen die, die ohnehin nicht so viel haben. Zum Beispiel die Kreuzberger. Das „Anbaden“ im Prinzenbad war zum Beispiel immer eine gute, dem Gemeinsinn dienende Tradition. Jahrzehntelang war der erste Tag der Freibadsaison feierlich begangen worden. Kapellen spielten, Exbürgermeister und Olympiasieger sprangen ins Sportbecken, Jahreskarten wurden verlost.

Auch diese Tradition wurde dieses Jahr verraten. An der Kasse heißt es nur noch: „Hier gibt es nischt mehr mit umsonst!“ Am Beckenrand ruft ein Mädchen „Komm, sei keine faule Nuss!“ ihrem wasserscheuen Freund zu und frisch gebadet kann man sich dann den anderen Ereignissen des 1. Mai widmen.

Irgendwie ist es wie immer. Andererseits aber auch nicht. Mit einer großen Ereignis- und Veranstaltungsdichte versucht man, die Krawalle auszutricksen. Überfüllte Papierkörbe schon am frühen Nachmittag deuten daraufhin, dass die ereignisorientierten Touristen, Gaffer, Demonstranten und andere flanierenden Mitbürger durchaus konsumfreudig sind, mithin einen Wirtschaftsfaktor für die örtliche Ökonomie darstellen. Die Atmosphäre am Nachmittag ist eigentlich noch viel besser als in den Jahren zuvor. Es gibt Musik unterschiedlicher Ausrichtung, die angenehm normal, also weder besonders scheußlich noch besonders toll ist, also so ähnlich wie man selbst und die anderen. Ein Typ trägt ein T-Shirt, auf dem steht, er sei als Kind schon scheiße gewesen.

Gut gelaunt flaniert man multikulturell, Bier trinkend, jointrauchend, würstchenessend, mal mehr nach innen, mal mehr nach außen grinsend im Kreuzberger Mainstream der Minderheiten über die Oranienstraße und den Mariannenplatz. Die Mitbürger kommen einem ausgesprochen sympathisch vor. Man fühlt sich jedenfalls sehr heimisch. Durch das übliche riesige „Es gibt keine Befreiung ohne Revolution“-Transparent wirkt die Oranienstraße allerdings auch wieder wie die Kulisse zu einem Film. Diese Kulissenhaftigkeit wird durch eine Sondereinheit der Polizei verstärkt, die ganz schwarz gekleidet ist, um bei für Machosymbole empfänglichen potenziellen Gegnern Eindruck zu machen. Um halb sieben geht man nach Hause, erfreut darüber, dass heute vielleicht endlich dieser ganze Krawallwiederholungszwang durchbrochen werden könnte.

Wie immer geht man aber nach der „Sportschau“ wieder zurück. Auf der Kottbusser Brücke redet ein kräftiger Mann mit gepflegten langen Haaren und vielen Tattoos auf einen jungen Polizisten ein. Er sagt: „1. Mai ist doch Tag der Arbeit. Da soll man doch nicht hauen.“ Der Rocker bemüht sich, den Eindruck großer Erfahrung zu vermitteln, als er die Chaostage und die Kämpfe um die Hamburger Hafenstraße erwähnt. Der Polizist, der während der Auseinandersetzungen um die Hafenstraße vermutlich noch im Kindergarten war, schaut etwas gelangweilt, wirkt genervt, dass er hier stehen und dem redseligen Typen zuhören muss.

Die Stimmung ist nicht mehr so schön. Dreimal werden wir von entgegenkommenden Männern in der Skalitzer Straße angerülpst. Alles scheint wie immer zu sein, auch wenn die Polizisten professioneller wirken und zuweilen sogar höflich antworten, wenn man sie was fragt. Eigentlich wollen wir nur den Muhammad-Ali-Film „When we were kings“ sehen, der am Oranienplatz gezeigt werden sollte. Es ist nicht schwierig, zum Oranienplatz zu kommen. Am Oranienplatz spielt eine Band. Der Sänger versucht ein bisschen wie Iggy Pop zu klingen und verabschiedet sich mit den Worten: „Ich wünsche euch noch einen schönen und vor allem stressfreien Abend.“ – „Schleimscheißer!“, ruft jemand. Die Zugabe ist furchtbar und klingt wie schlechter Stadion-Pomprock auf einer unzureichenden Anlage. Vom schönen Ali-Film jedenfalls keine Spur und plötzlich kommt man wieder in diese unangenehmen Déjà-vus. Leute fangen an zu rennen und man rennt mit, im Kopf noch 1.-Mai-Unruhen aus den Achtzigern, als Polizisten auf alle einzuschlagen pflegten, die noch in der O-Straße rumstanden. Diesmal arbeitet die Polizei eher mit Greiftrupps, zwölf Leute vielleicht in v-förmiger Formation, die sich dann einen schnappen.

Die Gefangenen werden dann auf einen Parkplatz am Kottbusser Tor geführt. Die werden jetzt „geknockt“, garantiert, sagt ein türkischstämmiger Teenager, vielleicht 15, zu seinen gut gelaunten Freunden. Vermutlich denkt er an die Bilder von den amerikanischen Soldaten, die ihre irakischen Gefangenen misshandelten. Andererseits klingt es nicht empört, wie er das sagt, sondern eher wie: selber schuld, so sind eben die Regeln; wer erwischt wird, kriegt eben einen auf die Mütze. Die fünf Jungs sind gepflegt gekleidet, haben auch ordentliche Haarschnitte. Fünf Stunden wären sie schon auf der Straße. Ungefragt versichern sie, dass sie keine Steine schmeißen würden. Sie seien nur Zuschauer. Das Zuschauen bringt ihnen sichtlich Spaß. Sie gucken uns an mit einer Mischung aus Respekt – wir waren ja schon 87 dabei – und Ironie. Ob wir Zigaretten hätten? Klar. Als ich dem Zweiten, der fragt, auch eine gebe: „Das ist ja wie Weihnachten.“

Ein paar Meter weiter, vor Kaiser’s am Kotti, steht ein Mann, vielleicht Ende vierzig im schwarzen Anzug, weißen Hemd, und beschimpft einen Fotografen, der so leicht alternativ ausschaut, als „Sensationshascher“. Mehrmals versucht er, den Fotografen anzugreifen. Das schlimmste Wort, dass ihm einfällt, ist „du Zugereister. Du bist ja ein Zugereister bis zum Geht-nicht-mehr!“ Seine dicke Frau hält ihn zurück. Andere Fotografen schützen ihren Kollegen. Wir vermuten, dass es sich um einen rechtsgerichteten alteingesessenen Kreuzberger handelt, der den Medien vorwirft, die Krawalle durch ihre Anwesenheit zu schüren.

Man meint zwar ungefähr zu verstehen, weshalb und wieso das immer so endet, den krawallorientierten Jugendlichen ist halt auch langweilig, ihre Motive ähneln vermutlich denen derer, die sich bei „Big Brother“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ bewerben, aber trotzdem ist man enttäuscht, grad auch weil der Nachmittag so angenehm und freundlich hier schien.

Auf der Kottbusser Brücke stehen Polizisten neben ihrem Wasserwerfer und erzählen sich Witze. Daneben quatscht ein Rentner einen jungen Polizisten voll. Der Rentner wirkt so, als wenn er sonst nicht so oft jemanden zum Vollquatschen hätte. Der Polizist ergibt sich seinem Schicksal. Gegen die Entfremdung sollte man vielleicht an vielen Ecken Polizisten aufstellen, die jedem zuhören müssen, der sie voll quatschen will.