lexikon der globalisierung : Was ist eigentlich Neokolonialismus?
Viele Kolonien der imperialistischen Mächte Europas befreiten sich im 20. Jahrhundert von der kolonialen Herrschaft. Wenige Kolonien wurden unter dem Druck der Blockkonfrontation in die Unabhängigkeit entlassen. Die Bildung souveräner Staaten mit modernen Institutionen sollten die ökonomische und demokratische Entwicklung beflügeln. Doch die versprochene Unabhängigkeit verwandelte sich in eine neue „neokolonial“ genannte Abhängigkeit.
Die ehemals koloniale Welt geriet während des Kalten Krieges unter den Einfluss der beiden Blöcke. Neutralität konnte nur innerhalb der Bewegung der Blockfreien bewahrt werden. Dazu kam eine neue ökonomische Abhängigkeit. Multinationale Konzerne beuteten, häufig mit aktiver Unterstützung einer korrupten politischen Elite, Rohstoffe und Arbeitskräfte aus, ohne einen Beitrag zu einer diversifizierten Ökonomie und Sozialstruktur zu leisten. So kam, wie die „Dependenztheorie“ seit den 60er-Jahren kritisierte, eine Entwicklung der Unterentwicklung zustande. Ökonomie und Gesellschaft der „Dritte Welt“ genannten ehemaligen Kolonien blieben „strukturell heterogen“.
Noch traf „die Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) die finanzielle Abhängigkeit seit der Liberalisierung und Deregulierung der globalen Finanzmärkte. Die Schuldenkrise der 80er-, die Finanzkrisen der 90er-Jahre waren Blockaden der ökonomischen und sozialen Modernisierung. Die internationalen Organisationen, vor allem Weltbank und Internationaler Währungsfonds, haben eine auf lokale und nationale Bedingungen keinerlei Rücksicht nehmende Strukturanpassung erzwungen. Formal wird dabei zwar die politische Souveränität gewahrt. Doch die Regeln der Anpassung sind in aller Welt die gleichen (als „Konsens von Washington“ in den USA entwickelt). Sie also werden von außen vorgegeben, schützen die Kreditgeber aus den Industrieländern, belasten einseitig die Schuldner in den Entwicklungsländern, halten also die ökonomische Abhängigkeit aufrecht.
Für diese neue Abhängigkeit wird der Begriff des „Neokolonialismus“ allerdings immer seltener verwendet. Denn die koloniale Vergangenheit liegt für viele der ehemaligen Kolonien ein halbes Jahrhundert zurück. Die Abhängigkeiten in Zeiten der Globalisierung haben den Charakter ökonomischer Sachzwänge angenommen. Doch sind auch Tendenzen eines „Neoimperialismus“ und einer quasi-kolonialen Unterwerfung von Staaten zu beobachten – etwa wie im Irak.
ELMAR ALTVATER
Das Lexikon der Globalisierung entsteht in Kooperation mit dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Nächste Woche: Daseinsvorsorge