: Nieder mit Goethe!
Die Klassiker der deutschen Literatur sollten Schulverbot erhalten: Sie vermiesen den Jugendlichen die Lust am Lesen und verbauen frischen Autoren den Weg zum Publikum
Welche Frechheit, würden die traditionellen Akademiker schreien. Welche Verrücktheit, würden die Bürokraten und Konservativen schreien, die Kultur und Bildung lenken. Und die Reaktionäre würden nicht auf sich warten lassen, um mit erhobener Stimme zu sagen: Welch ein Sakrileg!
Aber die Wahrheit ist, dass Goethe und noch einige andere heilige Kühe der deutschen Literatur einem Kapitalverbrechen geopfert werden müssten. Die Gründe dafür sind ausgesprochen zahlreich, aber führen wir nur die wichtigsten auf.
Der erste Grund betrifft die deutsche Jugend. Wie die Pisa-Studie uns wieder einmal zeigte, hat trotz Goethe, Schiller und der anderen Größen aus Weimar die Mehrzahl der deutschen Jugendlichen ein inakzeptabel niedriges akademisches Niveau. Und speziell im Fall der deutschen Literatur kennen unsere Jugendlichen darüber hinaus, abgesehen von den literarischen Relikten, nicht viel; um nicht zu sagen: gar nichts.
Laut Statistik existiert ein hoher Anteil an Jugendlichen, welche ernsthafte Schwächen nicht nur beim Lesen, sondern auch im Verstehen von literarischen Texten haben. Möglicherweise wollen viele Jugendliche gar nicht lesen oder aber sind dazu einfach nicht in der Lage. Deshalb müssen wir einige traditionelle Überzeugungen in Frage stellen, wenn wir erfolgreich gegen die heutige Fast-Food-Kultur ankämpfen wollen.
Eine dieser Pseudowahrheiten betrifft das Positive und Nützliche der Lektüre der Klassiker. Die modernen pädagogischen Erfahrungen zeigen das Gegenteil, und zwar, dass die Lektüre der Klassiker in einem frühen Alter mehr schädigt, als dass sie sich positiv auswirkt. Dies ist besonders deshalb der Fall, weil die Klassiker schwierige, hermetische und obskure Lektüren sind. Aber sie motivieren nicht unsere Kinder zum Lesen oder zu einem literarischen Schaffen: Sie zerstören die Lust am Lesen und, noch schlimmer, sie vermitteln einen Eindruck von Literatur als etwas Langweiligem, Ermüdendem und Verstaubtem.
Die jungen Leute brauchen heute eine altersgerechte literarische Anregung. Das bedeutet, dass eine frische, aktuelle und zugängliche Sprache für ihren kognitiven Bezug notwendig ist. Oder um es deutlicher zu machen, eine Sprache, die ihren Geschmack, ihre Fantasien und ihren ästhetischen Freuden entspricht. Es ist ein großer Fehler zu glauben, dass Kinder und Jugendliche den gleichen Geschmack und die gleichen ästhetischen Bedürfnisse wie wir Erwachsene haben, obwohl sie viel lieber „Harry Potter“ und „Herr der Ringe“ als Goethe oder Grass lesen würden.
Der zweite Grund, warum wir Goethe in die Wüste schicken sollten, betrifft die Deutsch- und Literaturlehrer. Was passiert in unseren Schulen, besonders den Gymnasien? Welche Texte geben wir unseren Jugendlichen als obligatorische Lektüre zu lesen? An der ersten Stelle dieser Listen steht natürlich „Faust“ und nichts anderes als „Faust“. Und dies deshalb, weil die Klassiker das Unterrichten für die Lehrer einfach und bequem machen. Goethe und der Rest der heiligen Kühe sind, wegen ihres Rufes, ausreichend für das Unterrichtsprogramm. Fragen wir uns also Folgendes: Kennen unsere Deutschlehrer an den Schulen die neuen deutschen Autoren nicht? Besteht deshalb für sie die Notwendigkeit, jedes neue Jahr ihr Programm zu wiederholen? Ist es also wahr, dass Goethe auch negativ für die Entwicklung des Deutsch- oder Literaturunterrichts gewesen ist?
Es ist eine Schande sowohl für den Intellekt als auch für alle zeitgenössischen deutschen Schriftsteller, dass jedes Mal, wenn man jemanden nach dem bevorzugten deutschen Schriftsteller fragt, immer Goethe und sein Faust genannt werden. Wie ist es möglich, fragen wir uns, dass nach mehr als zweihundert Jahren die gleichen literarischen Referenzen benutzt werden? Bedeutet es, dass die deutsche Literatur nicht in der Lage ist, etwas Neues mit einem höheren literarischen Anspruch oder zumindest etwas Gleichwertiges wie das Werk von Goethe zu schaffen?
Wenn die berühmte Postmodernität etwas Positives hat, so ist es das Recht, an den universellen und unsterblichen Wahrheiten zu zweifeln. Es wird Zeit, dass wir uns von einer pädagogischen und rationalen Perspektive fragen müssen, ob 12- oder 13-Jährige in der Lage sind, die Abenteuer des Spitzbuben Mephisto und des gewitzten Fausts zu verstehen und ob sich die Lektüre von „Faust“ positiv auf das Interesse am Lesen auswirkt. Die Antwort ist definitiv negativ. Und warum? Weil „Faust“ und ähnliche Texte nicht als Buch für Kinder und Jugendliche verfasst wurden.
Die Jugend, Teufel sei Dank, hat andere Erwartungen, Werte und Träume als die Erwachsenen, Bürokraten und Lehrer, die mit der Ausarbeitung von Unterrichtsprogrammen beschäftigt sind. Anstatt die Jugend zu motivieren und für Bücher zu begeistern, langweilt und demotiviert man sie, nach dem Motto: Bitte daran denken, das Lesen ist eine Angewohnheit, die Zeit, Praxis und Disziplin verlangt. Und garantiert keine freudvolle und Sinn stiftende Veranstaltung.
Der dritte und letzte Grund, warum Goethe heute wie eine negative Ikone erscheint, hängt mit den zeitgenössischen deutschen Schriftstellern zusammen. Der Kult um die Person Goethes seitens der Lehrer und Institutionen ist negativ, da er die neuen Autoren vergessen lässt und zu Außenseitern macht. Außerdem haben die neuen Autoren aus wirtschaftlichen Gründen nicht die Möglichkeiten, ihre neuesten literarischen Arbeiten einem größeren Leserkreis näher zu bringen.
Außerdem ist zu fragen, wo die neuen deutschen Autoren im Literaturkanon geblieben sind. Wer sind diese Autoren? Dies wäre nicht nur interessant zu wissen, sondern würde sich auch positiver auf eine Diskussion der literarischen Phänomene auswirken. Die Wahrheit ist, dass es selbst nach Jahrhunderten keine Überraschung ist, zu hören, dass Goethe – wie auch Shakespeare oder Cervantes – genial sind. Dies zu sagen, würde einer Bestätigung, dass Rotwein rot und Milch weiß ist, gleichkommen.
Die Klassiker sind gut! Kein Zweifel. Aber sie werden immer eine negative Seite haben – in Deutschland wie im Ausland. Wir dürfen das niemals vergessen. Das ist unsere literarische Verpflichtung.
Aus all den aufgeführten Gründen würden viele progressive Intellektuelle, Schriftsteller und Lektoren dem Vorschlag zustimmen: Wir müssen Goethe umbringen! HECTOR CAMARGO