: „Offene Netzwerke sollen entstehen“
Der europäische Kulturgedanke, sagt Christina Weiss, muss jetzt neu definiert werden. Die deutsche Kulturstaatsministerin über das Verhältnis von nationaler und übergreifender Kultur im erweiterten Europa und das gerade entstehende „Netzwerk gegen Zwangsmigration und Vertreibung“
INTERVIEW BRIGITTE WERNEBURG
taz: Frau Weiss, Kultur definiert das „Evangelische Staatslexikon“, herausgegeben von Roman Herzog, als „das Verhältnis des Menschen zur Welt und speziell zur Umwelt“. Wenn nun in der Europäischen Union der Agrarsektor die Hälfte aller Gelder bindet, dann leben wir offensichtlich in einer bäuerlichen Kultur. Oder ist dieser Eindruck falsch?
Christina Weiss: Zunächst einmal ist der Eindruck dem gezollt, was meiner Meinung nach die europäische Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten behindert statt gefördert hat: sich als rein ökonomische Gemeinschaft zu sehen. Das wird sich jetzt fast zwangsläufig verändern, weil die Erweiterung der Europäischen Union keine wirkliche Erweiterung ist, sondern die Rückkehr einer Kulturgemeinschaft, die es seit langer Zeit gab. Und gerade die Staaten in Mittel- und Osteuropa, die wieder in ihre Heimat kommen, die sie nach eigenem Verständnis nie verlassen haben, fordern sehr nachdrücklich, dass sich Europa über Kultur und Werte definiert.
Doch wo liegt die gemeinsame Basis dieser Werte und Kultur? Die New York Times brachte am 26. April einen langen Artikel über die Osterweiterung im Hinblick auf die Kultur. Der Titel des Artikels lautete: „Eine gemeinsame Kultur – aus den USA – verbindet die Europäer immer stärker“. Ansonsten, so der Autor, gebe es nur gegenseitige Unkenntnis, der zwar mit Myriaden von Tanz- und Musikfestivals begegnet werde. Doch wenn die Europäer zu keiner eigenen Mainstreamkultur gelangten, seien zukünftig die Chancen für die amerikanische Unterhaltungsindustrie auf dem europäischen Markt noch besser.
Nun ja, das ist eine spezifisch amerikanische Sicht, die uns Europäer nicht beunruhigen muss. Kulturelle Vielfalt ist schon immer ein besonderer Schatz Europas gewesen. Unsere Arbeit zielt aber schon auch darauf ab, im neuen Europa, das sich eben jenseits der ökonomischen Gemeinschaft bewegen möchte, einen europäischen Kulturgedanken neu zu definieren und zu stärken. Zum Beispiel im Bereich des europäischen Films: Der europäische Film wird gefördert, damit er seine Eigenart gegenüber dem amerikanischen Film behaupten kann, der ja für den Weltmarkt produziert wird. Das ist beim europäischen Film häufig nicht der Fall. Trotzdem spricht der Erfolg der europäischen Filme, die sich ja immer schon gegen die amerikanischen Filme behauptet haben, für sich.
Kultur wird in Europa auch gerne als Kern der nationalen Identität begriffen. Daher scheint den Europäern nichts grässlicher als eine solche geteilte und dabei nivellierte Einheitskultur. In Deutschland selbst ist Kultur ja Ländersache. Könnte das nicht ein Modell für Europa sein: Kultur ist Ländersache, und darüber – warum nicht? – die amerikanische Unterhaltungsindustrie, die allen Europäern gleich dominant und fremd ist?
Man muss ja sehen, dass die Kulturlandschaft in Europa weltweit die reichhaltigste ist. Und Teil des Bewusstseins, ein Europäer zu sein, ist die Kultur, und zwar die der eigenen Region. Aber all diese Kulturen sind aus einer Wurzel entstanden, was ein Einheitsgefühl begründet. Deshalb müssen die Europäer wegen amerikanischer Kulturimporte nicht brüskiert sein. Sie zerstören ihre eigene Kultur nicht.
Die fünf größten Beitrittsländer der zehn neuen gehörten von 1846 bis 1918 zur Donaumonarchie. Wenn man nun aber an das Habsburger Reich denkt, dann trug das kulturelle Erwachen seiner verschiedenen Teile, etwa durch die Alphabetisierung, zum Zusammenbruch des Reiches entscheidend bei. Muss das nicht eine Warnung sein? Muss es nicht einen grundsätzlichen Konsens geben, dass die nationale Kultur vor einer gemeinsamen, vielleicht eher politischen Kultur aus Demokratie, Menschenrechten und Laizität zurücktreten muss?
Das ist ein ziemlich kompliziertes Beziehungsgeflecht. Die Bewahrung und Pflege der nationalen Kultur ist die Voraussetzung dafür, sich der größeren Einheit öffnen zu können. Oberste Leitlinie ist die Akzeptanz, Europa zu sein. Das darf aber nicht dazu führen, die kulturelle Vielfalt zu nivellieren. Das ist ja sehr oft passiert, und wo das passiert ist, siehe Balkan, bricht irgendwann revolutionär, auch auf eine sehr negative Weise revolutionär, diese Behauptung der eigenen Kultur wieder auf. Ich beobachte, dass auf diese Balance jetzt sehr viel bewusster geachtet wird als bei den ersten Modellen europäischer Gemeinschaftsbildung. Damals ging es vorrangig um den gemeinsamen Markt. Jetzt wird in allen Kommuniqués über Europa die kulturelle Vielfalt thematisiert.
Wir haben ja eine gemeinsame Geschichte, die aber zum Großteil die Geschichte der Kriege ist, die wir gegeneinander führten. Daher diskutieren, erforschen und stellen wir sie nicht gerne gemeinsam dar. Mit dem europäischen „Netzwerk gegen Zwangsmigration und Vertreibung“ scheint aber etwas Neues gelungen zu sein?
Das war eine unbeschreibliche Erfahrung, weil wir uns alle bewusst waren, dass sich zum ersten Mal seit 1945 die Kulturminister von Deutschland, Polen, Tschechien, Ungarn, Österreich und der Slowakei getroffen haben, um miteinander über ein solches Thema zu sprechen. Es war ja in der Tat meine Initiative, die ich an den polnischen Kollegen vermitteln konnte. Bei der letztjährigen deutsch-polnischen Grenzreise saßen Herr Dabrowski und ich zusammen im Auto, als das Thema „Zentrum gegen Vertreibung“ in Deutschland hochbrandete, und da gab es eine Spiegel-Anfrage nach einem Interview. Ich habe leibhaftig miterlebt, wie der polnische Kollege reagierte. Bereits da haben wir uns verständigt, dass wir uns etwas einfallen lassen werden, um die Debatte aus dieser Verhärtung herauszuziehen.
Daraus ist dann die Einladung entstanden, die mein polnischer Kollege ausgesprochen hat. Und es ist uns wirklich gelungen, trotz der Verhärtungen, die deutlich spürbar waren – übrigens nicht so sehr bei den Politikern, sondern mehr bei den Experten, die sie mitbrachten –, den Netzwerkgedanken auf eine europäische Basis zu stellen. Es war richtig, dass damit der Beginn einer gemeinsamen Betrachtung des Themas gerade in Warschau stattfand. Es soll also ein offenes Netzwerk erstellt werden, das zunächst zwei Landkarten erarbeitet. Eine Landkarte verzeichnet alle Institutionen, Museen und Stiftungen, die sich in den jeweiligen Ländern mit Teilaspekten des Themas befassen und somit potenzielle Partner sind. Eine zweite Landkarte wird alle symbolischen Orte zum Thema auflisten. Das Netzwerk soll unablässig produzieren und Impulse geben. Ausstellungen, Symposien, Informationsreisen: seine Arbeit muss ganz deutlich in der Öffentlichkeit wahrnehmbar sein. Wir werden dem Netzwerk daher auch einen erkennbaren Kern geben, mit einer Adresse. Es wird nicht nur ein virtuelles Netzwerk sein. Wir haben von einer Art Sekretariat gesprochen und darüber, ob wir ein hochkarätiges „Elder-Statesmen-Kuratorium“ einrichten sollen. Wir haben auch über einen möglichen Ort des Sekretariats gesprochen.
Dabei präferieren wir eine Grenzregion oder einen länderübergreifenden mehrpoligen Standort. Das werden die Experten jetzt untereinander beraten. Am 5. Oktober werden wir uns in Budapest zum zweiten Mal zu diesem Thema treffen und Ergebnisse präsentieren. Dass damit die ersten Treffen im Ausland stattfinden, zeigt bereits die internationale Ausrichtung und Akzeptanz des Netzwerks.
Ein anderes Projekt, das in Berlin beheimatet ist, wurde von der EU aber gleich mal gar nicht bezuschusst, nämlich das „Kulturjahr der zehn neuen Beitrittsländer“. Sie sind Schirmherrin dieser Initiative und fördern sie mit 1,5 Millionen Euro. Gibt es auch da neue Ansätze?
Das Schöne an dieser Initiative ist, dass sie aus der Mitte der Beitrittsländer kommt. Die Hinwendung der neuen Partner nach Deutschland kann man nicht provozieren. Wir können uns ihnen zuwenden; aber dass sie sich uns zuwenden, ist eine wunderbare Geste. Es handelt sich um eine Vielzahl von Veranstaltungen, die einen ganz unterschiedlichen Charakter haben werden. Es geht um eine Bündelung von Kulturkommunikation im weitesten Sinne, jetzt mal in Berlin, wo ja auch die Botschaften der Länder sind. Und so möchte ich das auch sehen, als Mischung aus Diplomatie, Politik und Kultur.
Zur Geschichte Europas, auch Osteuropas, gehört der leidige Antisemitismus. Gerade fand in Berlin eine große OSZE-Konferenz zu diesem Thema statt. Welche Rolle hatten die Kulturminister der Mitgliedsländer? Wie waren Sie eingebunden?
Gar nicht. Das ist Thema des Auswärtigen Amts.
Wo Kultur die wirtschaftliche Sphäre berührt, bei den Steuern, bei kapitalintensiven Kulturprodukten wie dem Film, beim Urheberrecht, wie stark ist da Ihre Position, welche Instrumente haben Sie?
Relativ stark. Weil es eben immer sehr spezielle Fragen sind, die uns betreffen. Wir müssen uns immer wieder mit Bedenken auseinander setzen, die meistens aus der EU-Wettbewerbskommission kommen und natürlich immer wieder die Frage betreffen, ob Kulturförderung Subvention ist oder nicht, Wettbewerbsverzerrung oder nicht. Das können wir in fast allen Fällen abwehren. Bei unserer Novelle des Filmförderungsgesetzes gab es anfänglich auch Bedenken aus der Wettbewerbskommission. Wir haben unseren Entwurf dann mit Hilfe der Franzosen durchgefochten, deren Filmförderungsgesetz demnächst ebenfalls novelliert wird. Wir, die europäischen Kulturminister, werden uns in Zukunft sehr viel stärker zusammenschließen, um unsere Interessen effizienter vertreten zu können.
Wenn Sie sich jetzt verabreden, bedeutet das, dass es schon darüber eine Angleichung der Länder gibt, etwa wie sie ihre Instrumente zur Filmförderung bauen?
Ja, das ist ganz neu. Das haben wir aber auch erst durch die EU- Erweiterung bemerkt. Filmförderung, EU-Fernseh- und Rundfunkrichtlinien, Urheberrecht, das wird alles zukünftig viel schneller von der nationalen auf die europäische Ebene kommen.