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Archiv-Artikel

Die Schülerlotsen

300 nette Worte statt Jugendknast: Wer in Bayern jung ist und beim Klauen oder Haschisch-rauchen erwischt wird, landet – mit etwas Glück – vor einem Schülergericht. Die so genannten Teen Courts sollen nach US-amerikanischem Vorbild die bisherige Praxis des Jugendstrafrechts verbessern. Das Modell kommt gut an – obwohl es die Schiedsrichter gelegentlich überfordert

VON JÖRG SCHALLENBERG

Weiß getünchte Wände, ein blau-gelb gemusterter Teppich, eine riesige Zimmerpflanze in der Ecke, ein Keith-Haring-Bild an der Wand. In der Mitte dieses Gerichtssaals ein flacher Tisch, drum herum ein paar blaue und grüne Stühle. Ein heller Raum, freundlich und nüchtern zugleich. Eigentlich wirkt er eher wie ein Wartezimmer – und gewissermaßen ist er das ja auch. Wer hier sitzt und durch das Fenster hinaus auf den Rathausplatz von Ingolstadt schauen kann, der ist noch nicht dran. Und er muss auch nicht drankommen – beim Staatsanwalt zumindest nicht.

Denn in dem freundlichen, nüchternen Raum sitzen regelmäßig Jugendliche zwischen 14 und 18, die etwas angestellt haben. Sie sind zum Beispiel ohne Ticket Bahn gefahren, haben ohne Führerschein ein Auto gelenkt, haben geklaut oder Haschisch geraucht. Manchmal geht es auch um Körperverletzung oder Raub, allerdings nicht in allzu schweren Fällen.

Ohne Machtallüren

Um den ertappten Sünder herum sitzen drei andere Jugendliche, die ihn befragen, wie es zu der Tat kommen konnte – und sich anschließend eine Strafe für ihn ausdenken. Die kann in ein paar Arbeitsstunden bestehen, aber auch darin, das Handy für eine Woche abzugeben oder ein Bild für ein Altenheim zu malen. Wird die Strafe akzeptiert, dann stellt die Staatsanwaltschaft das zuvor eingeleitete Verfahren ein.

„Projekt Fallschirm“ heißt dieses Modellverfahren in Ingolstadt, unter verschiedenen Namen läuft es seit ein paar Jahren in mehreren bayerischen Gerichtsbezirken. Die Idee ist überall die gleiche, sie stammt aus den USA, wo so genannte Teen Courts bereits seit den Siebzigerjahren durchgeführt werden: Wer als Jugendlicher mit dem Gesetz in Konflikt gerät, soll nicht automatisch bei der Justiz landen, sondern die Möglichkeit erhalten, sich einem Gremium von Gleichaltrigen zu stellen.

Den Gedanken dahinter formuliert der Münchner Strafrechtler Prof. Heinz Schöch so: „Dem Projekt liegt die Hypothese zugrunde, dass jugendliche Straftäter durch missbilligende Reaktionen von Altersgenossen eher zur Einsicht gebracht und beeinflusst werden als durch ein herkömmliches Jugendstrafverfahren.“ Anders als in den USA, wo Schülergerichte mit Richterroben, Anklägern und Verteidigern regelrecht inszeniert werden (siehe Kasten), legt man in Bayern jedoch Wert darauf, dem Verfahren eher den Charakter eines Round-Table-Gesprächs denn einer konfrontativen Gerichtsverhandlung zu geben.

Deswegen verdrehen Anne, 17, und Alex, 18, auch schon die Augen, wenn man von einem Gerichtssaal redet. „Wir sind überhaupt keine Richter“, betont Alex zuallererst. Aber was sind sie dann? Schulterzucken. Es existiert eben noch kein fester Begriff für die Aufgabe, die beide seit gut einem Jahr unentgeltlich in ihrer Freizeit übernehmen. Dafür sind die „kriminalpädagogischen Schülerprojekte“, wie sie die Rechtswissenschaft definiert, immer noch zu sehr juristisches Neuland. Man könnte Anne und Alex, die Gymnasiastin und den Fachoberschüler, vielleicht als Schüler-Rechtslotsen bezeichnen – womit sich zugleich die Frage stellt, warum gerade sie von ihren Lehrern auf die durchaus verantwortungsvolle Aufgabe angesprochen wurden.

In einem wissenschaftlichen Artikel beschreibt Strafrechtler Heinz Schöch die Vorgaben, nach denen nur Jugendliche in Frage kommen, „die gute schulische Leistungen erbringen, dialogfähig sind und einen gefestigten Charakter haben“. Insgesamt melden sich wesentlich mehr Mädchen als Jungen für die freiwillige Aufgabe, Hauptschüler sind nicht dabei. Alex und Anne erscheinen, wenn man sich länger mit ihnen unterhält, glücklicherweise auch keinesfalls als Strebertypen vom Typ Jungschnösel mit Aktenkoffer, der vor dem obligatorischen Jurastudium schon mal ein paar Punkte für den Lebenslauf sammeln will, sondern eher als intelligente, interessierte junge Menschen, denen das Bedürfnis, Macht über andere auszuüben, fremd ist.

Es mag an der geschickten Auswahl der Schüler liegen, dass die Akzeptanz dieser Art vorjuristischen Mediation unter Gleichaltrigen hoch ist. 92 Fälle haben die insgesamt 12 Jugendlichen, die in Ingolstadt im „Projekt Fallschirm“ mitarbeiten, seit Anfang 2003 betreut, nur 9 Täter brachen das Verfahren ab, womit ihre Akte zurück zum Staatsanwalt wanderte. Allerdings müssen die Ertappten dem Verfahren vorher auch zustimmen. Zudem sind „Intensivtäter oder jugendliche Schwerkriminelle, die vielleicht noch in Banden operieren“, ausdrücklich von den Verfahren ausgenommen, wie der leitende Staatsanwalt in Ingolstadt, Herbert Walter, einschränkt. In seinem Ermessen liegt es, welche Fälle an das „Projekt Fallschirm“ weitergeleitet werden.

Keine Routinefälle

Doch auch wenn er jeden Gedanken an ein „Ersatzgericht“ im Sinne einer Entlastung für die termingehetzte Justiz vehement abwehrt und darauf verweist, dass die Schüler keinerlei juristische Handhabe besitzen, so hat er offensichtlich doch einiges Vertrauen in das neuartige Prinzip: „Die Jugendlichen haben einen ganz anderen Zugang.“ Einen, dessen Direktheit die Erwachsenen bisweilen erschreckt. Die Sozialpädagogin Christine Metzger, die bei den meisten Verfahren in Ingolstadt dabeisitzt, erzählt vom Fall eines Jungen, der bereits dreimal mit Kleindelikten aufgefallen war: „Mit dem haben sich die drei lange unterhalten und ihm dann knallhart ins Gesicht gesagt: ‚Du brauchst eine Therapie und deine Eltern am besten auch.‘ Ich bin vor Entsetzen fast vom Stuhl gefallen, das würde ich nie sofort sagen. Aber es war genau richtig. Der Jugendliche hat sich plötzlich geöffnet, hat erzählt, dass er schon in Therapie war, dann kam noch sein Vater dazu, der ihn abholen wollte, und plötzlich redeten alle über die Probleme, die wirklich hinter dem auffälligen Verhalten steckten.“

Ein solcher Verlauf ist der Idealfall bei den kriminalpädagogischen Projekten – und er zeigt zugleich die Möglichkeiten und die Gefahren auf, die sie beinhalten. Wenn Anne und Alex von ihren Fällen berichten, dann wird schnell klar, dass es nicht so wichtig ist, welche Strafen sie letztlich verhängen, sondern dass sie genau das leisten, was die Justiz gerade nicht kann. „Wir nehmen uns Zeit für die Leute“, sagt Anne, „mir ist es wichtig, zu begreifen, was wirklich dahinter steckt, wenn jemand mit Drogen erwischt wird oder klaut.“

Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) formuliert den Anspruch der Schülergremien so: „Im Teen Court ist kein Jugendlicher ein Routinefall. Die Schüler setzen sich mit den Tätern sehr intensiv auseinander und können flexibel und kreativ reagieren.“ Wer jemanden beleidigt hat, muss zur Strafe schon mal 300 nette Wörter aufschreiben. Andererseits haben Schüler in Aschaffenburg bereits einmal einen Ladendieb dazu verdonnert, zurück ins Kaufhaus zu gehen mit einem Schild um den Hals „Ladendiebstahl lohnt sich nicht“. Diese Variante des mittelalterlichen Prangers sorgte zu Recht für Aufregung und belegt, dass die jugendlichen Fastrichter bei der Verhängung des Strafmaßes schon mal arg über das Ziel hinausschießen können.

Weil es immer wieder möglich ist, dass Schüler mit der Beurteilung von Altersgenossen doch überfordert sind, haben die kriminalpädagogischen Projekte vor allem ein Problem: Man weiß noch nicht genau, was ihnen zuzutrauen ist – oder, wie es Alex aus Ingolstadt bedauernd sagt: „Wir machen ja meistens nur ganz leichte Fälle.“ Und solange es im Wesentlichen dabei bleibt, dass jemand wegen einer Beleidigung 300 nette Wörter aufschreiben muss, ist das zwar ein ganz zauberhafter Beweis jugendlicher Fantasie. Aber braucht man dafür wirklich das ganze Drumherum?

Strafrechtler Heinz Schöch gibt angesichts seiner bisherigen Beobachtungen zu bedenken, dass die Schwere eines Falles dem Aufwand, ein Gremium zu bilden, entsprechen solle. Anders gesagt: Ein Projekt für Bonbonklau lohnt sich nicht. Deshalb sollte seiner Meinung nach „das Deliktspektrum erweitert“ und sollten mehr Wiederholungstäter einbezogen werden. Wenn die Idee, dass Jugendliche einen anderen pädagogischen Zugang zu Gleichaltrigen haben als Erwachsene, tatsächlich im Sinne eines innovativen Seitenpfads zum Jugendstrafrecht ausgebaut werden soll, dann muss man ihnen noch mehr zutrauen. Sonst bleibt womöglich wenig mehr als eine Art Klassensprechertribunal für Schwarzfahrer.