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Archiv-Artikel

Unbegründete Ängste

An den Börsen herrscht das „China-Frösteln“ – die Sorge um die Inflationsblase. Was treibt diese Visionen an?

Jagdish Bhagwati: „Chinas Netto-Effekt auf uns ist viel geringer, als wir denken“

PEKING taz ■ Es ist zugegebenermaßen ungewöhnlich, wenn ein chinesischer Premierminister über die Lage seines Landes einmal nicht so schönfärberisch spricht wie ein Konzernsprecher: „Es gibt Probleme und Widersprüche in unserer Wirtschaftsleistung“, sagte Chinas Regierungschef Wen Jiabao vor Antritt seiner Europareise der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera. Zugleich verwies Wen auf die „Tendenz zu einer starken Inflation im Zuge des Preisanstiegs für Rohstoffe“. Damit hatte der Premier Wasser auf die Mühlen der China-Pessimisten gegossen.

Tatsächlich sind die chinesischen Verbraucherpreise im vergangenen Monat um drei Prozent im Vergleich zum März des Vorjahres gestiegen. Und da Inflation in China in den vorausgegangenen zehn Jahren ein nahezu unbekanntes Phänomen war, wirkt nun die Drei-Prozent-Ziffer weit über China hinaus wie ein regelrechter Inflationsschock.

„Inflation wird zu Chinas neuem Exportgut“, titelt die sonst eher zurückhaltende International Herald Tribune. Doch damit nicht genug. Die Preisanstiege, etwa in dem von Wen angesprochenen Rohstoffsektor, führen Ökonomen auf unkontrolliert wachsende Investitionen und eine allgemeine Überhitzung der chinesischen Wirtschaft zurück. Schlimmer noch: Schon sehen Experten das Land vom Boom unmittelbar in die Krise stürzen. „Die derzeitige Investitionsblase übertrifft jene der Jahre 1992 bis 1994“, erinnert Andy Xie, Chefökonom der US-Investmentbank Morgan Stanley in Hongkong, an die letzte chinesische Wirtschaftskrise vor über zehn Jahren.

So kann es kaum verwundern, dass an den großen Börsen in New York und Hongkong plötzlich vom „China-Frösteln“ die Rede ist. Ende April fielen dort erst die Goldpreise, dann der australische Dollar und schließlich die Rohstoff- und Transportaktien. Alles aber wird mit China erklärt. Denn ein Wachstumseinbruch in der Volksrepublik würde zuerst die Rohstoffpreise, vor allem beim Hauptlieferanten Australien, sinken lassen.

Mehr noch: Als die chinesische Regierung vergangene Woche ihre Banken auf mehr Zurückhaltung bei der Kreditvergabe drängte, fielen die Aktien rund um den Globus. „Ein großer Teil der Stabilität oder Unstabilität der Welt liegt heute auf den Schultern der Pekinger Führung“, folgert Richard Koo, Chefvolkswirt des größten japanischen Wertpapierhauses Nomura und einer der einflussreichsten Ökonomen Asiens. Dabei hofft Koo, dass Peking eine „weiche Landung“ gelingt, sprich: eine schrittweise Reduzierung des Wachstums. Andernfalls sieht er die Stabilität der Weltwirtschaft gefährdet.

Was aber treibt die Sorgen um China wirklich an? Wie kann ein Land, das auch heute kaum fünf Prozent des Weltbruttosozialprodukts erwirtschaftet, mit einer im Prinzip niedrigen Inflationsrate, einer seit Jahren stabil hohen Wachstumsrate von derzeit 9,7 Prozent und einer nahezu ausgeglichenen Handels- und Leistungsbilanz überhaupt das Gerede von weltweiter Instabilität provozieren?

Im Zuge der weltpolitischen Nah- und Mittelost-Fixierung hat sich offenbar parallel dazu eine weltwirtschaftliche China-Fixierung in den Köpfen breit gemacht. Dass DaimlerChrysler seine Partnerschaften in Japan und Korea aufkündigt, um als alternative Asienstrategie ein bislang lediglich auf dem Papier stehendes China-Jointventure zu preisen, entspricht dem Zeitgeist. Als sei jeder in China investierte Yuan doppelt so viel wert wie die vergleichbare Investitionssumme in Yen oder Won. Wer aber die chinesischen Träume so hochspinnt, hat entsprechend viel Angst, dass etwas an ihnen nicht stimmt. Auf diesen versteckten Sorgen westlicher und japanischer Investoren beruht ein Großteil der herrschenden China-Verunsicherung.

Dabei ergibt ein genauerer Blick auf die Wirtschaftslage ein vielseitiges Bild. So stimmt es zwar, dass für einige Rohstoffe wie Eisenerz, Koks, Stahl, Aluminium und Schrott die Weltmarktpreise aufgrund der chinesischen Nachfrage enorm gestiegen sind. China verbraucht derzeit ein Viertel des Aluminiums, 30 Prozent des Eisenerzes, 31 Prozent der Kohle, 27 Prozent der Stahlprodukte und die Hälfte des Zements in aller Welt. Doch schon bei der weit verbreiteten Annahme, dass China auch für die zurückliegenden Ölpreissteigerungen verantwortlich ist, stimmt die Rechnung nicht mehr: Das Land ist mit nur 7 Prozent am globalen Ölkonsum beteiligt. Auch lässt sich der steigende Rohstoffverbrauch erklären: Die am meisten nachgefragten Metalle frisst der Bau- und Autoboom in China.

Nun gilt gerade das Immobiliengeschäft als spekulations- und damit blasenverdächtig. Zugleich aber ist der Bedarf in China ungeheuer groß: Mindestens 200 Millionen Menschen werden in den nächsten zehn Jahren vom Land in die Städte ziehen. Derweil sind Chinas Hausbesitzer als treue Kreditzahler bekannt und verfügen über genügend Sparguthaben. Was hier nach einer Blase aussieht, muss also keine sein. Dafür spricht auch, dass die chinesischen Immobilienpreise im letzten Jahr nur um 4 Prozent stiegen.

„Ich sehe in China kein inflationäres Umfeld“, urteilt Jörg Wuttke, Vorsitzender der Deutschen Handelskammer in Peking. Ebenso widerspricht Wuttke der Annahme, Chinas Wirtschaft sei überhitzt. Demnach müssten sich in den betroffenen Branchen die Lagerbestände aufgrund von Überinvestitionen häufen. Das aber sei, so Wuttke, bislang nirgends zu beobachten.

Doch nicht nur China intern, auch weltweit erscheinen manche Sorgen übertrieben. „Chinas Netto-Effekt auf uns ist viel geringer, als wir denken“, wirft der US-Ökonom Jagdish Bhagwati in die amerikanische Wahlkampfdebatte um an China verlorene Arbeitsplätze ein. Laut Bhagwati hätte der Warenaustausch der USA mit China lediglich jenen mit den Tigerstaaten ersetzt. Warum aber glaubt das, nicht nur in den USA, kein Mensch?

Laut der US-Investmentbank Goldman Sachs wird China die USA im Jahr 2041 als größte Wirtschaftsmacht überflügeln. Demnach hat China als einziges Land das Potenzial, die Vereinigten Staaten als Nummer eins zu verdrängen. Diese Rechnung aber ist so groß, dass sie heute schon viele Investoren und Manager veranlasst, ihre Hausaufgaben nicht richtig zu machen.

GEORG BLUME