: „Der Sterbende soll wählen können“
Eugen Brysch von der Deutschen Hospizstiftung will das Gesundheitswesen im Interesse Sterbender umkrempeln
taz: Herr Brysch, die Bundesärztekammer lehnt Sterbehilfe ab und plädiert für den Ausbau der Schmerztherapie. Solche Forderungen hört man seit Jahren. Warum kommt die Palliativmedizin nicht wirklich voran?
Eugen Brysch: Ein umfassendes Konzept von Palliative Care stellt die ganze Struktur unseres Gesundheitswesens in Frage. Sterbende und Schwerstkranke brauchen ja nicht nur medizinische Schmerztherapie, sondern sollten durch multiprofessionelle Teams aus Ärzten, Psychologen, Pflegern und, auf Wunsch, Seelsorgern betreut werden.
Muss Sterbebegleitung unbedingt durch professionelle Kräfte erfolgen?
Die meist ehrenamtlichen Helfer in der Hospizbewegung leisten anerkennenswerte Arbeit. Von ihnen kann aber nicht verlangt werden, alle Bedürfnisse eines Sterbenden an einem von ihm gewählten Ort rund um die Uhr zu erfüllen. Hier ist Professionalität gefragt, die wir im Einklang mit den Standards der Weltgesundheitsorganisation einfordern. Deshalb benutzen wir auch den etwas sperrigen Begriff Palliative Care.
Und warum stellen internationale Standards das deutsche Gesundheitswesen in Frage?
Weil eine umfassende qualifizierte Sterbebegleitung bei den Krankenkassen nicht abgerechnet werden kann. Das Gesundheitssystem ist zu sehr auf das Heilen von Krankheiten ausgerichtet. Es versagt, wenn weitere Heilversuche nicht mehr sinnvoll sind oder sie vom Patienten nicht mehr gewünscht werden.
Wie sieht die Versorgung mit Palliative Care derzeit in Deutschland aus?
Jährlich sterben 850.000 Menschen in Deutschland. Internationale Erfahrungen sagen, dass etwa 40 Prozent eine Palliative-Care-Versorgung wünschen und benötigen. Tatsächlich erhalten sie aber nur 2,1 Prozent der Sterbenden. Dazu kommen 4,4 Prozent der Sterbenden, die eine ehrenamtliche hospizliche Betreuung erhalten. Deutschland ist damit international eines der Schlusslichter.
Wie wird Palliative Care abgerechnet, dort, wo Sterbende davon profitieren können?
In Krankenhäusern wird offiziell noch geheilt, wenn eigentlich schon Palliative Care gegeben wird. Das wird aber schwieriger, wenn Krankenhäuser künftig fast nur noch über Fallpauschalen abrechnen. In professionellen Hospizen gibt es eine Mischfinanzierung von Krankenkassen, Pflegeversicherung, Hospizträger plus eine Eigenbeteiligung von 10 Prozent des Sterbenden.
Ist diese Mischfinanzierung ein Modell, das ausgebaut werden sollte?
Nein, denn sie ist mit schuld an der Unterversorgung. Wenn ein Hospizträger, etwa die Kirchen, selbst zur Finanzierung beizutragen hat, muss er sich ein Hospiz leisten wollen und können. Das kann unter den derzeitigen Bedingungen kaum ausgeweitet werden, eher droht ein Abbau von Hospizplätzen.
Welche Rolle spielen Pflegeheime in der Sterbegleitung?
Vor allem die Demenzkranken in Pflegeheimen sind die Leidtragenden der deutschen Palliative-Care-Misere. Anders als Krebskranke kommen sie in der Regel gar nicht ins Blickfeld des Gesundheitswesens. Außerdem können sie auch ihre Interessen nicht äußern und vertreten.
Können nicht ambulante Palliative-Care-Dienste auch in ein Pflegeheim kommen?
Auch das wird nicht finanziert. Es heißt, Sterbegleitung sei Aufgabe der Pflegeheime. Aber das ist illusorisch. Es ist ja bekannt, wie wenig Zeit die Pflegekräfte in den Heimen schon für die Pflege im engeren Sinne haben. Für die Sterbebegleitung bleiben dann nur noch die Angehörigen und ehrenamtliche Helfer.
Es fehlt also vor allem an Geld. Wo soll es herkommen?
Im Jahr 2000 betrugen die Gesundheitsausgaben insgesamt 218 Milliarden Euro. Davon werden 50 bis 60 Prozent für die letzten zwölf Lebensmonate aufgewandt. Das sind 420 Euro pro Tag. Dieses Geld wird häufig für eine Maximalversorgung im Krankenhaus ausgegeben, die an den Bedürfnissen der Sterbenden vorbeigeht. Ein Hospizplatz oder eine ambulante Palliative-Care-Versorgung kosten nur 250 Euro pro Tag. Wir fordern daher ein persönliches Tagesbudget von täglich 250 Euro, mit dem sich der Sterbende für die Leistung entscheiden kann, die seinen Bedürfnissen entspricht.
Wer aber weitere Heilversuche wünscht, kommt mit 250 Euro pro Tag nicht weit …
Es geht um die Wahlmöglichkeit, der Sterbende soll selbst entscheiden können, ob er heilende oder palliative Therapie in Anspruch nimmt.
Wenn Ihr Vorschlag zugleich den Sterbenden und den Budgets nützt, wieso wird er dann nicht umgesetzt?
Die Parteien im Bundestag sind durchaus interessiert, aber keine greift das Konzept auf. Vermutlich trauen sie sich nicht zu, das Gesundheitswesen wirklich umzubauen, und befürchten, dass es nur zum Aufbau zusätzlicher teurer Infrastruktur für Sterbende kommt.
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH