: Umwege zum Wohlstand
Konjunktur beleben (1): Nicht nur die Bevölkerung schrumpft, auch die Wirtschaft. Dagegen hilft keine „Staatsknete“ und kein noch so gut gemeintes Konjunkturprogramm
Nun geht also die Konjunktur- und Spardebatte wieder los. Nicht nur die Bundesregierung denkt laut übers Geldausgeben nach, auch die AG Alternative Wirtschaftspolitik legt ein „Memorandum 2004“ vor. Das ist ein politisches Manifest und als solches ein gelungenes Stück Polemik. Vielleicht will es auch nicht mehr sein. Dann bedürfte es auch nicht des Versuchs ökonomischer Begründungen für sein politisches Anliegen – die „Gegenwehr“ gegen „zwanzig Jahre neoliberaler Gegenreform“. Erhebt es aber den Anspruch besserer Einsicht in die ökonomischen Zusammenhänge, dann sollten seine Argumente stichhaltig sein. Sie sind es nicht.
Nach reichlicher Kritik an der „Agenda 2010“ legen die Memorandumsautoren klare Alternativen vor: Rücknahme der Rentenkürzungen, dafür eine drastische Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge auf 26 Prozent; Rücknahme der Praxisgebühr und Einführung einer Bürgerkrankenversicherung als faktische Steuer auf alle Einkunftsarten; soziale Mindestsicherung für alle von mindestens 120 Prozent der gegenwärtigen Sozialhilfe aus Haushaltsmitteln; dazu für die nächsten zehn Jahre jährlich 129 Milliarden Euro vom Staat für Konjunkturprogramme und Beschäftigungspolitik, finanziert durch kräftige Steuererhöhungen auf Einkommen, Vermögen und Unternehmensgewinne – und durch einen wohlfeilen, weil völlig fiktiven Posten von jährlich 50 Milliarden Euro aus der „effizienteren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität“.
Was für ein Deutschland stellen sich die Alternativen Ökonomen da vor? Ein Land offenbar, in dem nicht nur Geld und Wohlstand vom Staat kommen wie der Strom aus der Steckdose, sondern auch die Arbeitsplätze. Ein Land also, in dem der Staat einen immer größeren Anteil am Sozialprodukt hat und bis zu drei Viertel der Bruttolohnkosten für sich beansprucht. Ein Land, dessen Exporte trotz wachsender inländischer Abgabenlast auf wunderbare Weise wettbewerbsfähig bleiben. Und schließlich – so eine Kernthese des Memorandums 2004 – ein Land, das keine Probleme mit seiner alternden Bevölkerung hat, weil ja zum Glück die Last der steigenden Zahl zu unterhaltender Alter durch die abnehmende Last der immer spärlicheren Kinder weitgehend ausgeglichen wird.
In der eingebrochenen Geburtenrate ein willkommenes volkswirtschaftliches Umverteilungspotenzial zugunsten der Rentner zu entdecken, das ist schon ein besonderer Zynismus. Aber auch zu den ökonomischen Annahmen des Memorandums sind Fragen angebracht. Warum sollten Arbeitnehmer bei massiv steigenden Abgabenbelastungen eigentlich legal arbeiten wollen? Nur der Anreiz zur Schwarzarbeit würde hier wachsen. Wollen die Autoren dagegen durch massive Aufstockung des staatlichen Überwachungspersonals im Sinne der „effizienteren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität“ vorgehen?
Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum Deutschlands ergeben sich laut Memorandum aus der hohen Produktivität und den daher niedrigen Lohnstückkosten. Wo aber soll wachsender Wohlstand, von dem die Autoren so selbstverständlich ausgehen, dass sie sich nur noch mit seiner Umverteilung befassen, eigentlich herkommen, wenn ein gegebenes Sozialprodukt dank einer weiter steigenden Produktivität von immer weniger Beschäftigten erzeugt wird? Der letzte Industriearbeiter in Deutschland wird zweifellos eine fabelhafte Produktivität aufweisen, bevor er das Licht ausmacht.
Anders gesagt: Produktivitätssteigerung setzt einen immer höheren Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz voraus. Aber werden Unternehmen unter den von den Memorandumsautoren propagierten steuerlichen Bedingungen in Deutschland langfristig zusätzliches Kapital in Produktionsanlagen investieren? Produktivitätssteigerung ist im Kapitalismus nicht der Schlüssel zu ewigem Volkswohlstand und schon gar keine Wunderwaffe für Umverteiler. Sie ist neben längerer Arbeitszeit und der Nutzung billigerer Arbeitskräfte ein weiteres Mittel zur Gewinnsteigerung für die Unternehmen, und nur als solches kommt sie zum Einsatz.
Schließlich: Warum sollten Unternehmen in einem Land langfristig investieren, in dem sich zwar das von den Alternativen Ökonomen begeistert entdeckte Verhältnis Nichterwerbstätiger (Kinder und Alte) zu Erwerbstätigen nur langsam verschlechtert, aber die nachwachsende Bevölkerung, also das künftige Arbeitskräfte- und Verbraucherpotenzial, immer schneller zurückgeht? Da mögen die Marketingexperten noch so sehr den Markt der Alten entdecken, Unternehmen sehen eine schrumpfende Bevölkerung als schrumpfenden Markt und ziehen es vor, in Ländern mit wachsender Wirtschaft und Bevölkerung zu investieren, wenn diese günstige Bedingungen bieten. So wie China oder Indien – und unter den großen Industriestaaten, dank hoher Geburtenrate und Einwanderung, vor allem die Vereinigten Staaten.
Deshalb auch taugt der deutsche Exportüberschuss nicht als Anlass zur Selbstgefälligkeit, so wie umgekehrt das seit über 20 Jahren bestehende Leistungsbilanzdefizit der USA kein Zeichen der Schwäche, sondern eines der Stärke ist. Die amerikanische Volkswirtschaft kann es sich leisten, über ihre Verhältnisse zu leben, das heißt, mehr zu verbrauchen, als sie produziert. Denn andere Länder – etwa Deutschland und das demografisch wie wirtschaftlich ebenso wachstumsschwache Japan – stellen ihr dafür ihre Ersparnisse zur Verfügung, für die es im eigenen Land keine vergleichbar lohnenden Anlagemöglichkeiten gibt.
Für die Memorandumsökonomen ist die zu stimulierende Binnennachfrage der Retter aus der Not. Doch wie soll das gehen? Werden gleichzeitig die Angebotskosten der inländischen Unternehmen durch höhere Abgabenbelastungen erhöht, dann wird das in die Wirtschaft zu pumpende Geld weniger die inländische Produktion als vielmehr preisgünstige Importe stimulieren. Das war die schlechte Erfahrung der französischen Regierung unter Mitterrand Anfang der 80er-Jahre, der daher alsbald ein scharfer Kurswechsel zu einer fiskalpolitisch restriktiven angebotsorientierten Wirtschaftspolitik folgte. Auch Deutschland machte diese Erfahrung im Zuge des staatlich finanzierten Scheinbooms der deutschen Einheit 1991/92, an dessen Folgen unsere Volkswirtschaft heute noch leidet.
Es ließen sich viele gute Alternativen einer sozialeren und effizienteren Ausgestaltung der großen staatlichen Aufgaben, wie Bildung, Gesundheitswesen, Verkehrsinfrastruktur, ohne Einsatz von „mehr Staatsknete“ nennen. Viele davon werden auch bereits diskutiert. Im „Memorandum“ aber findet man dazu wenig. Sollten die Autoren stattdessen anderes im Sinn haben, nämlich Vorschläge zu liefern, wie man das private Kapital aus dem Lande treiben kann, wäre auch das ja ein diskussionswertes Anliegen. Über ihre „Alternative Wirtschaftspolitik“ wird es allerdings nicht laufen.
JENS VAN SCHERPENBERG