SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON HARALD FRICKE

Cherrywine

Bright Black (Dcide/Baby Grande)

Den Hit hatte er schon vor zehn Jahren. Damals war „Rebirth of Slick (Cool like dat)“ für die New Yorker Digable Planets das Ticket in die Charts. Der Erfolg kam mit geschmirgelten E-Piano-Sounds und Siebzigerjahre-Jazz-Loops, zu denen Butterfly aka Ishmael Butler über die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Existenz von Zeit und Raum philosophierte, wie man es als junger Kiffkopf eben macht. Einen Sommer lang war die HipHop-Psychedelik aus Brooklyn die Alternative zum Gangsta-Rap. Danach solidarisierten sich Digable Planets mit Mumia Abu Jamal und wurden von ihrer Plattenfirma fallen gelassen, weil sich der bewusstseinserweiterte Politaktivismus nicht verkaufte.

Butler muss die Ablehnung schwer erschüttert haben. Heute lebt er in Seattle, hat Gitarrespielen gelernt und nennt sich nun Cherrywine, weil das besser zu der mittlerweile angerauten und gereiften Stimme passt. Wer immer auf das Comeback gewartet hat: Hits wird er auf „Bright Black“ nicht finden. Die Rhythmen sind schleppend, der dazu gerappte Freestyle Cherrywines treibt den Beat nicht voran, sondern wird gezielt als Bremse im Song-Patchwork eingesetzt. So kreist „See for miles“ um das Für und Wider von „Cocaine“, bleibt aber unvollendet zwischen Clubeuphorie und Drogenkater. Selbst wenn Cherrywine in einem Stück wie „American Drip“ mit fashionabler 80s-Melodie zur „Party“ aufruft, überwiegt die Eigenbrödelei. Ob es dafür eine Nische auf MTV gibt, ist fraglich.

The Carla Bley Big Band

Looking for America (WATT Works/ECM)

Wer Carla Bley auf der Website www.wattxtrawatt.com besucht, findet die Jazzmusikerin in einer virtuellen Gefängniszelle, wo sie am Klavier über Kompositionen brütet. Eine neue Auftragsarbeit für das Barbican Center in London? Ein Duett mit ihrem Schlagzeuger Steve Swallow? Momentan hat sich Bley am amerikanischen Patriotismus festgebissen. Schon als 1980 Ronald Reagan zum US-Präsidenten gewählt wurde, hatte die 1938 geborene Kalifornierin mit einer Variation der „National Anthem“ reagiert, indem sie das „Star Spangled Banner“-Thema in eine Moll-Tonart übertrug – Jubel mit verminderten Akkorden sozusagen.

Das ist auch der Humor auf „Looking for America“. Von einem 18-köpfigen Orchester begleitet, reitet Bley neben John Wayne durch Texas, die Musiker trotten mit Marching-Sounds aus New Orleans hinterher. Stets sieht man die USA aus der Schräglage: Hymnen werden zu Wiegenliedern, Mexiko wird in „Tijuana Traffic“ zum Treffpunkt für folkloristische Bläsersätze, die die reale Grenze der Migration mit Easy Listening konterkarieren. Immer scheint die Musik den Off-Beat zur amerikanischen Sicht in punkto Souveränität und Selbstverständnis zu suchen. So führt der Pfad, auf den Bley das Traditional „Old MacDonald Had A Farm“ schickt, über Holpersteine in die Augsburger Puppenkiste – auch das eine Parodie auf God’s Own Country. Neben dem ironischen Rekurs auf nationale Wohlfühlmelodien tauchen immer wieder autobiografische Referenzen auf. Vier Stücke sind den verschiedenen Mutterfiguren gewidmet, die Bleys Leben mitbestimmt haben. Dabei sticht besonders das elegische „God Mother“ heraus: Mit Westernhelden allein ist eben kein Staat zu machen.

Marcus S. Kleiner / Achim Szepanski

Soundcultures (edition suhrkamp)

Auf Bleys Homepage gibt es einen Link, über den man ihre Partituren bestellen kann. Die Notation birgt kein Geheimnis, sie dient als Grundstoff, aus dem sich jeder seine Versionen selber schnitzen, basteln oder brikolieren kann – so er denn über die entsprechende Software verfügt. Bei Mille Plateaux wäre dieser Zugang zu den Datenbänken eigentlich ein Muss. Immerhin hat sich das Frankfurter Label für experimentelle Elektronik nach dem Theoriesteinbruch von Gilles Deleuze und Felix Guattari benannt. Dort heißt wildes Denken: Bildet ständig neue Zusammenhänge, vergesst die starre Bedeutungsstruktur der Welt, seid lieber Vielheiten!

Wie aber wirken sich Deterritorialisierung, Wunschmaschinen und Rhizome auf die Musik aus? In Clicks & Cuts, in Glitch-Hop, Midi-Rauschen und in weit verzweigter akademischer Grübelei. Letztere findet sich im Sammelband „Soundcultures“, der bei Suhrkamp erschienen ist und dem eine CD mit 22 kurzen Tracks beigelegt wurde, die einen Querschnitt der auf dem Label veröffentlichenden Musiker dokumentiert: Von Vladislav Delays Praliné-House über den Ambientkrach von Terre Thaemlitz zu Asmus Tietchens und seinem Stillstandgeorgel in 22 Minuten. Natürlich sind die Miniaturen nur Zuckerl auf dem trocken Brot der Theorie. Im Buch erfährt man, dass die Wurzellosigkeit heutiger Elektronika vor allem in der Wurzellosigkeit von Neue-Musik-Avantgardisten à la John Cage oder Luigi Nono verwurzelt ist und dass Programmierarbeit dem Schreibverfahren eines James Joyce ähnelt. Für Geisteswissenschaftler, denen der Text näher steht als die Musik, ist das Kompendium ganz brauchbar, Neueinsteiger sind mit der Lektüre des de:Bug-Magazins besser bedient. Für Knistertechno-Fans dagegen ist die CD definitiv zu kurz. Und für Suhrkamp? Ist die Veröffentlichung ein Schritt in Richtung Cultural-Studies-Charts.

Forss

Soulhack (Sonar Kollektiv/Zomba)

Tatsächlich hat sich mit dem Dancefloor das Zentrum verabschiedet. Wer im Plattenladen nach avancierter Clubmusik sucht, schaut nicht nur unter UK und USA nach, sondern auch bei Chile, Japan oder Schweden vorbei. Dort kommt der 23-jährige Eric Wahlforss her, in dessen Laptop so ziemlich alles gespeichert ist, was während der letzten dreieinhalb Jahrzehnte an Jazz, Funk und Groovadelic produziert wurde: Miles Davis bläst ins Horn, jemand anders sabbert in seine Mundharmonika, die Keyboards schwirren im Disco-Himmel. Der britische Radio-1-Hipster Gilles Peterson hat den süß wie Biskuitteig aufgequirlten Mix als „Hooligan jazz for the head phone generation“ bezeichnet, so steht es auf dem Cover der „Soulhack“-CD von Forss.

Allerdings liegt in diesem flotten Promospeak zugleich das Problem. Vor lauter schnell mal eingeblendeten Zitaten und Sample-Tricks fehlt das Türchen, das einem die Stücke öffnet und den Zuhörer wenigstens für Momente hinter die Oberfläche und auf die Maschine schauen lässt. Hauptsache Geschwindigkeit? Obwohl das Innencover streng serielle Fotos zur Architektur eines Wasserstaubeckens zeigt, läuft das musikalische Konzept ein wenig aus dem Ruder – es fließt nicht bloß, es schwimmt sogar. So groß die Liebe zu fetten Schlagzeugbecken, so sicher der Geschmack in Sachen cooler Soundästhetik sein mag – am Ende fehlt bei Forss eine nicht unwesentliche Unterscheidung: zwischen den technischen Möglichkeiten und der individuellen Handschrift. Du kannst es auch Songwriting nennen. Guter Gerätepop, trotzdem.

Yoshimi & Yuka

Flower with no color (Ipecac Rec./EFA)

Im Frühjahr 2002 fuhren Yoshimi P-we und Yuka Honda mit einem Kleintransporter von Tokio aus in die Berge. Auf dem Weg legten sie immer wieder Pausen ein, packten ihr Gitarren, Bambusflöten und Mini-Keyboards aus und hörten den Vögeln zu. Sobald das Gezwitscher eine angenehme Tonfolge erreicht hatte, fingen Yoshimi und Yuka an, die Lockrufe auf ihren Instrumenten zu umspielen. Möglicherweise waren aber auch schimpfende Finken dabei, die ihr Revier gegen die Eindringlinge verteidigen wollten. An manchen Orten gab es nur zirpende Grillen, die sich von dem schüchternen Getrommel der beiden Musiker angezogen fühlten; an anderen Plätzen wiederum saßen Hunde am Straßenrand und bellten. Denn die japanische Tierwelt ist vielfältig.

„Flower with no color“ ist gewöhnungsbedürftig. Vor allem hebt sich die CD sehr von der bisherigen Vita ab: Yoshimi spielte in der japanischen Undergroundband The Boredoms, Yuka war bei dem Girlie-Duo Cibo Matto – Punk und Pop also. Das hier ist der Abschied von beidem. „In einer Zeit kommerzieller Soundtracks und corporate marketing ist dieses Album ein kraftvolles künstlerisches Statement“, schreiben sie in einem Begleittext zur CD. Offenbar war der am weitesten entfernte Bezugspunkt gerade richtig als Heimstätte für dieses Projekt: Field Recordings, Minimal-Art, traumartige Gebilde aus Kindersingsang und buddhistischem Geklöppel. Dass „Flower with no color“ sich an Tempelritualen orientiert und auch die Natur bewusst als symbolischer Gegenpart zum urban landscape gewählt ist, gibt dem luftigen Experiment zwar etwas viel zivilisationskritisches Futter. Aber 55 Minuten Einübung in die Geräusche aus Alltag und Umgebung, das hat was.

Monostars

Nichts für immer(What’s So Funny About)

Als in den Neunzigerjahren Pop in Deutschland politisch definiert wurde, spielten lokale Zusammenhänge eine beachtliche Rolle. Warum sonst hätte man sich selbst im Spex-Klüngel von Köln auf die Hamburger Schule einigen sollen? An München wurde jedenfalls nicht gedacht. Dabei trifft all das, was sich in Sachen Deutschpop und Dissidenz allmählich zum Teeniegeschwärme auf Viva ausgewachsen hat, auch auf die Monostars zu. Drei Akkorde, ein spröder Beat, Zwei-Finger-Melodien auf den Synthies und viel, angenehm feinfühlig formulierter Text. Auf Deutsch, damit die Slogans stimmen: „Wir sind eine eigene Gesellschaft/ und alles ist so, weil wir es wollen“; und weil man ein Wort wie „Geräusche“ prima mit bajuwarischem „r“ von der Zunge rollen lassen kann. Aber einen Refrain später wechselt der Song doch ins Englische und überhaupt: Klingt „In it for trouble“ nicht besser als „Dabei sein um des Ärgers willen“? Ja, würde Norbert Graeser als Texter, Sänger und Bassist der Monostars wohl sagen, und dass sie nie eine gute deutschsprachige Band werden wollten, sondern „lieber eine gute Band“.

Mit „Nichts für immer“ sind die Monostars an einem Grad angelangt, wo man nicht mehr entwirren muss, was an der Musik hippe Attitüde, strategischer Abgrenzungskampf und subkulturelles Statusgehabe ist. Schnörkellos geht es auf eine melancholische, sanft monotone Fahrt, verweht irgendwo auch Jugendklub-Anleihen, ein Parkplatz rechts der Autobahn zwischen Passau und Nürnberg, auf dem Weg durch die öde Provinz. „Wir gleiten und wir driften/ über blank polierte Oberflächen/ durch ein Land ohne Versprechen“. Um Liebe geht es natürlich auch, aber die verläuft nicht ohne Komplikationen, so ist das in Deutschland. Veröffentlicht werden Monostars übrigens beim Old-School-Punk Alfred Hilsberg. In Hamburg.

Marc Bolan & T. Rex

Work in Progress (Demon Records)

Schramm, schramm, schepper, schepper. Im Studio war Marc Bolan glücklich, das hört man auf jedem Stück, das für „Work in Progress“ zusammengestellt wurde. Die Gitarre zerrt, das Wahwah-Pedal jault, die Stimme flirrt quer durch die Oktaven, das Hirn fliegt mit. Es stimmt, diesen vereierten Ton, dieses ätherische Gelb hätte John Lennon niemals hingekriegt, wie er bei einem Live-Konzert am Ende von „Cold Turkey“ einmal beklagt hat. Schön, dass es dieses Gelb gibt – als Zitronengelb auf „Meadows of the Sea“, als durchdringendes Sommersonnengelb auf „20th Century Baby“ und als goldenes Gelb der Azteken auf „Big Black Cat“. Marc Bolan war ein Van Gogh im Glamrock. Und ebenso Perfektionist: Musste der schroffe Boogie von „Jet Tambourine“ für „The Slider“ dem sehr viel zarteren und folkkompatibleren „Spaceball Ricochet“ weichen? Oder ist „Down Home Lady“ nie auf „Zinc Alloy and the Hidden Riders of Tomorrow“ erschienen, weil der Falsettgesang etwas over the top war?

Ist doch völlig egal. Seit Bolan 1977 mit seinem Mini Cooper gegen einen Baum gesegelt ist, kursieren dutzendweise Bootlegs von T. Rex, damit nicht auch die Erinnerung noch stirbt. Die jetzt veröffentlichten 55 Songskizzen und Fragmente sind ein großartiges Allover, bei dem man einiges von der Ekstase spürt, mit der Bolan Songs umreißt und nach einer Minute oft wieder verwirft. Erst auf CD 2, mit Bandbegleitung, werden die Jam-Sessions in das für die Top Ten übliche Single-Format gegossen. „Brain Police“ passt gut in Bolans fortschreitende Verpunkung, mit der er damals an einer Rockoper unter dem Titel „Billy Super Duper“ arbeitete. Vor allem aber bleibt es ein Rätsel, wie ein Mensch aus zwei, drei Rock-’n’-Roll-Riffs den Sound einer Generation in zighundert Songs hochtoupieren konnte. Vielleicht, weil Pop damals ein freudiges Bekenntnis zur Produktion war und nicht eine verdächtige Figur des kulturindustriell kontaminierten Diskurses.