: Armut macht süchtig
In sozial schwachen Bezirken sterben mehr Menschen an Lungenkrebs. Gesundheitssenatorin appelliert an Eigenverantwortung. Alkoholismus häufigste Diagnose bei Männern mittleren Alters
von STEFAN ALBERTI und MAX HÄGLER
Je ärmer, desto größer die Gefahr, an Lungenkrebs zu sterben. Das geht aus einem Bericht hervor, den Gesundheitssenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) gestern vorlegte. Demnach starben in den Jahren 1998 bis 2000 im ärmsten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg über 30 Prozent mehr Männer an Lungenkrebs als im Berliner Durchschnitt. Im reichsten Bezirk Steglitz-Zehlendorf hingegen liegt die Zahl gut 20 Prozent unter dem Schnitt. Im Jahr 2001 starben insgesamt 1.032 Männer und 620 Frauen an Lungenkrebs. Zugleich beklagte die Senatorin die hohe Zahl der Alkoholtoten. Jährlich sterben in Berlin rund 2.000 Menschen an den Folgen übermäßgen Alkoholkonsums. Bei Männern zwischen 35 und 64 Jahren sei Alkoholimus der mit Abstand höchste Behandlungsanlass, Knake-Werner appellierte an die Selbstverantwortung: „Jeder Berliner und jede Berlinerin trägt durch eigenes Verhalten hier ein großes Maß an Verantwortung.“
Die hohen Abweichungen beim Lungenkrebs zwischen den Bezirken sind keine Ausreißer. Knake-Werner weist auf einen „deutlichen Zusammenhang zwischen der Lungenkrebssterblichkeit und der sozialen Lage“ hin. Die Sterblichkeitsrate für den – meistens durch Rauchen verursachten – Lungenkrebs bei Männern folgt fast genau dem Sozialindex der Stadt. Deutlich weniger Fälle als im Berlin-Schnitt gibt es auch in Treptow-Köpenick und Charlottenburg-Wilmersdorf, auffällig mehr hingegen in den sozial schwachen Bezirken Mitte und Neukölln.
Für die Gesundheitsverwaltung ist das kein Berliner Phänomen. „Es ist bundes-, ja weltweit ein Fakt, dass in ärmeren Bevölkerungsgruppen mehr geraucht wie als in begüterten“, sagt Sprecherin Regina Kneiding. Rauchen diene, wie Alkohol, oft der Bewältigung sozialer Probleme. Außer dem Appell an die Eigenverantwortung nannte Senatorin Knake-Werner keine Konsequenzen. Kneiding verwies auf Nachfrage auf Präventionsmaßnahmen, die in den vergangenen Jahren verstärkt worden seien.
Für Johannes Spatz, Sprecher beim „Forum Rauchfrei“, ist es durchaus eine Frage von Schulbildung, ob man raucht oder nicht. So würden Hauptschüler zwei- bis dreimal so viel rauchen wie Gymnasiasten. „Der beste Weg daraus besteht in Arbeitsbeschaffung und dem Ausgleich der sozialen Schieflage“, sagt Spatz. Die geplanten Reformen über die Agenda 2010 würden nicht zu einer Besserung führen.
Laut Spatz erreicht Zigarettenwerbung vor allem weniger gebildete Kinder und Jugendliche. Ein umfassendes Werbeverbot würde nach seinen Angaben jeden Zwölften vom Rauchen abhalten.