: Bei den Palästinensern regiert die Wut, sagt Laetitia Bucaille
Nur wenn Israel seine Politik ändert, kommt wieder Bewegung in die verhärteten Fronten des Nahostkonflikts
taz: Seit zehn Jahren existiert in Palästina die Autonomiebehörde. Wie ist die Bilanz?
Laetitia Bucaille: Die palästinensische Autonomiebehörde ist korrupt, nicht immer besonders effizient und stellenweise autokratisch. Aber im Unterschied zu anderen arabischen Gesellschaften können sich die Palästinenser frei ausdrücken – auch wenn sie abweichende Meinungen haben. Man kann Palästina keinesfalls mit dem Regime von Saddam Hussein oder Jordanien gleichsetzen.
Woher rührt dieser Unterschied?
Von 1967 bis 1994 existierte dort keine legitime, anerkannte Regierung. In dieser Zeit hat sich die palästinensische Gesellschaft allein organisiert. Als die palästinensische Autonomiebehörde 1994 kam, stieß sie auf eine Gesellschaft, die bereits einen ziemlich effektiven Kampf organisiert hatte: die erste Intifada.
Nun hat die zweite Intifada –Stichwort Selbstmordattentate – ein sehr anderes Gesicht als die erste. Warum?
Bei der ersten Intifada existierte eine israelische Besatzung. Das Ziel war es damals, sich mit Aktionen zivilen Ungehorsams von den Strukturen der israelischen Militärbesatzung abzukoppeln. Es gab Steuerboykotte, Streiks und den Versuch, sich mit palästinensischen Produkten selbst zu versorgen. Heute existieren kaum noch direkte Kontakte mit israelischen Strukturen. Die israelische Besatzung ist zwar nicht völlig verschwunden, aber sie hat einen Teil der Aufgaben an die Autonomiebehörde delegiert.
Das erklärt, warum die zweite Intifada von Steinewürfen zu Selbstmordattentaten reicht?
Man kann keine Bewegung zivilen Ungehorsams organisieren, wenn sich die Besatzer teilweise zurückgezogen haben. Und eine Guerilla wäre extrem schwierig zu organisieren, weil die Guerilla-Logik will, dass man zuschlägt und sich schnell zurückzieht. Diese Rückzugsmöglichkeit gibt es angesichts der militärischen israelischen Einsperrung nicht. Die Bewegungsfreiheit ist minimal.
Sie meinen, dass es keine Alternative zu den Selbstmordattentaten gibt?
Nein. Aber ich meine, dass es sehr schwer für die Palästinenser ist, neue Kampfformen zu erfinden. Ziviler Ungehorsam und Widerstand führen zu nichts. Steinwürfe sind eine hilflose und gefährliche Geste, weil das israelische Militärs, anders als bei der ersten Intifada, mit echten Kugeln schießt. Vor diesem Hintergrund triumphieren die islamistischen Bewegungen mit ihren Methoden. Sie erscheinen als einziges Mittel, um das Kräfteverhältnis mit den Israelis umzukehren.
Wer hat derzeit die Macht in Palästina?
Es gibt dort keine zentrale Macht. Die Autonomiebehörde ist stark geschwächt. Wegen der Umzingelung existieren viele verschiedene lokale Mächte. Die Fatah ist stark, auch die Hamas verfügt über bedeutende Mobilisierungsfähigkeiten.
Wie ist das Kräfteverhältnis zwischen Fatah und Hamas?
Es gibt Kooperation und Rivalität. 2002 hat die Armee der Fatah entschieden, Selbstmordattentate auszuführen, obwohl das völlig gegen die Doktrin der Fatah verstieß, die immer gesagt hat: Wir attackieren Militärs und Siedler – und zwar in den besetzten Gebieten, nicht in Israel. Die Fatah hat diese Wende vollzogen, weil ihre junge Basis radikaler ist als ihre alten Kämpfer. Die Jungen wollten sich militärisch nicht von Hamas überholen lassen.
Wie hat sich der Blick der palästinensischen Gesellschaft auf Israel seit 1994 verändert?
Völlig. Nach 1994 wollte man ein Abkommen mit den Israelis erreichen. Dann begannen peu à peu die Enttäuschungen. Weil die politischen palästinensischen Gefangenen zu langsam freigelassen wurden. Weil die Zahl der Siedler in Westjordanien sich zwischen 1992 und 2000 verdoppelte. Die Palästinenser fühlen sich getäuscht.
Kann sich die Mehrheit der Palästinenser überhaupt noch eine friedliche Koexistenz mit Israel vorstellen?
Das wechselt. Direkt nach einer einer harten Militäroperation regiert die Wut. Zugleich ist den Palästinensern aber klar, dass der Staat Israel unumstößlich existiert. Sie wissen, dass Israel so stark ist, dass es bleiben wird. Sie sagen: Wir müssen uns damit arrangieren.
Ariel Scharon will Gaza räumen, aber die offenbar weite Teile des Westjordanlandes behalten. Kann ein zerstückeltes Palästina denn als Staat funktionieren?
Wenn die Grenzen durchlässig sind: Ja. Ohne Durchlässigkeit zwischen Westjordanland und Gaza wird das sehr kompliziert. Hinzu kommt, dass Israel auch die Grenzen mit dem Ausland kontrolliert.
Die Fronten sind derzeit verhärtet. Wie kann wieder Bewegung in den Konflikt kommen?
Nur durch eine Wende in Israel. Dort gibt es zwar Stimmen – wie die „Refuzniks“ –, die sich der Armee verweigern, aber die sind minoritär. Die Palästinenser haben keine Druckmittel. Sie haben den Eindruck, dass mit Scharon nichts möglich ist und eine Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft nötig ist, um Israel zu Verhandlungen zu zwingen.
Also ist kein Ende des derzeitigen Konfliktes absehbar?
Eine neue US-Regierung kann eventuell eine neue Haltung einnehmen. Aber solange die USA im Irak verstrickt sind, werden sie sich kaum stark in der palästinensischen Frage engagieren. INTERVIEW: DOROTHEA HAHN