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Archiv-Artikel

Classisches Denken

Die Büchmann-Bildung und die Spätfolgen. Kleiner Test einer CD-ROM zur Philosophie

Heute braucht kein Leitartikel mehr ohne Plotin auszukommen

Als vor einigen Jahren die erste CD-ROM mit umfangreichen Partien des Werkes von Arno Schmidt erschienen war, verdrehte eine Mitarbeiterin der Arno-Schmidt-Stiftung die Augen und sagte: „Jetzt werden uns täglich Aufsätze über ‚Arno Schmidt und das Meer‘, ‚Arno Schmidts Verhältnis zum Winter‘ oder ‚Das Motiv des Graubrots im erzählerischen Frühwerk Arno Schmidts‘ erreichen.“

Ob sie Recht behalten hat, wäre zu erfragen. Seither jedenfalls haben die CD-ROM-Editionen, die die klassischen Kanons digital aufbereiten und mit bequemen Suchfunktionen als unerschöpfliche Fundgruben erschließen, den Markt erobert. Sie sind für kleines Geld zu erwerben und an die Stelle der verstaubten Zitatenschätze getreten, und sie dienen Journalisten, Ministerialdirigenten und anderen noblen Existenzen dazu, ihre Texte mit respektablen Weisheiten zu schmücken. Heute braucht kein Leitartikel mehr ohne Plotin auszukommen, und für jedes Reformvorlagepapier findet sich mühelos ein prangendes Hegel-Zitat.

Adorno geißelte noch die Halbbildung, heute genießen Blenderbildung und achtelgares Sechzehntelwissen Hochkonjunktur. Das schadet dem bürgerlichen Bildungsverständnis, das oft selbst Habitus und Gehabe (Büchmann) war, und das schadet zunächst einmal nicht, im Gegenteil. Aber es ist auch ein Typus des gespreizten Allesbeschwätzers entstanden, der den altehrwürdigen Hochgradverblasenen durch seine Blasiertheit in den cocktailempfangskompatiblen Zitatschatten stellt.

Ein kleiner Test beweist den komfortablen Nutzwert der gewaltigen Speicher. Die CD-ROM „Die digitale Bibliothek der Philosophie – Von der Antike bis zur Moderne“ enthält „45.000 Seiten ungekürzte, grundlegende Meisterwerke der Philosophie“ sowie zwei philosophische Lexika und eine Philosophiegeschichte. Blau markiert treten uns hunderte von Stellen zu Begriffen wie „Geist“ oder „Natur“ vor Augen. Die Abhandlungen, die gerade zum „Verhältnis von Geist und Natur von der Antike bis zur Moderne“ entstehen, dürften in die tausende gehen.

Bloß, wie steht es um die wirklich relevanten, aus dem Fundus des Denkens heraus zu adelnden Lemmata der Gegenwart? Die Treffer zur „Katastrophe“ sind spärlich, nur Schopenhauer liefert drei Einträge, von Diltheys „Katastrophe von Jena“ kaum zu maunzen. Besser wird es auch nicht beim existentialen „Verzagen“: „Dass man nicht verzagen, sondern Muth fassen soll, habe ich schon gesagt“, hat schon Francis Bacon gesagt, allerdings war es das praktisch schon. Gegen den „Mißmut“ ist zwar Kierkegaard eingeschritten, gleichwohl tadelt ansonsten bloß Platon (Politeia) den „empfindelnde[n] Mißmut“.

Zu derartigen gesellschaftlichen Gefühls- und Problemzusammenhängen sind so gut wie keine Edelworte zusammenzuklauben, geschweige denn ganze Besinnungsaufsätze zusammenzuschrauben. Wie aber verhält es sich mit dem „Frust“? Nix. „Wellness“? Fehlanzeige. „Global“ oder „Matrix“: Totalschlag ins Kontor. Allein für „virtuell“ möchte sich Schopenhauer, unser zuverlässigster Antwortlieferant, wenigstens einmal verwenden.

Wer deshalb lieber zum Thema „Gurken“ Zuflucht sucht und von Schopenhauer erhört wird („Sehr viele Diöcisten, Monöcisten und Polygamisten, z. B. Gurken und Melonen, sind im selben Fall“), dem seien immerhin Descartes’ Einlassungen zur „Reform“ auf die Tastatur gelegt. So „meine ich“, meint Descartes, „dass ein Einzelner schwerlich die Reform eines Staats damit beginnen werde, alle Grundlagen zu ändern und behufs des Neubaues umzustürzen“. Das passt doch sogar ins Kanzleramtsgästebuch. JÜRGEN ROTH