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Archiv-Artikel

Das essbare Genie

Salvador Dalís massenhaft reproduziertes Werk gilt vielen als überschätzt. Dabei war Dalí mehr als nur Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Designer: Er war der erste Popstar des 20. Jahrhunderts – und hat sich seinem Publikum zum Fraß vorgeworfen. Heute wäre der Surrealist hundert Jahre alt geworden

Am Ende war vom widersprüchlichem Wollen nur noch Leerlauf geblieben

VON SEBASTIAN HANDKE

Wenn in ferner Zukunft die Medienarchäologen das zwanzigste Jahrhundert aufarbeiten, werden sie wohl einem Mann Aufmerksamkeit schenken müssen, den heute, an seinem hundertsten Geburtstag, noch kaum jemand auf der Rechnung hat. Er nahm die Selbststilisierungskampagne der Dandys, überführte sie in die Kulturindustrie und machte sich so zum ersten Popstar des zwanzigsten Jahrhunderts. Er malte die wahrscheinlich erste Cola-Flasche der Kunstgeschichte. John Lennon bestellte bei ihm ein Geburtstagsgeschenk für Ringo. Und lange vor Ozzy Osbourne biss er einer Taube in den Kopf. Salvador Dalí ist der wahre Prince of Darkness.

Was ihn noch interessanter machen dürfte, ist die erstaunliche Tatsache, dass er den Weg zum Pop fand über jene andere große ästhetische Errungenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts: dem Avantgardismus. Man muss wissen: Der Surrealist, wie Dalí ihn verstand, ist nicht Künstler, sondern Kaviar – jene „dialektische Traube“, die geschluckt sein will, bevor die Menschen sich an fettigen und verstopfenden Speisen versuchen. Darin, so schreibt Dalí 1935 in „Die Eroberung des Irrationalen“, liege die „kolossale nahrhafte und kulturelle Verantwortung des Surrealismus“: die Masse abzuhalten vom Biss ins hochrot blutende Kotelett – und sich selbst zum Verzehr anzubieten.

Dalí verabscheute die „selbst bestrafende“ Architektur der Moderne und hegte die vermutlich durchaus ernst gemeinte Absicht, sie mit seiner Formensprache und seiner surrealistischen Methode des kritischen Paranoismus zu infiltrieren – kurz: dem imaginativen Fasten seiner Zeitgenossen ein Ende zu setzen. Mit den Mitteln der Kunst ein neues Publikum zu schaffen, mit neuen Augen – das war auch das Ziel der Avantgarden. Dass Dalí dabei so hemmungslos auf die Massenkultur setzte, haben ihm seine Freunde vom Pariser Kreis der Surrealisten nicht verziehen.

Für sie ist Dalí so etwas wie ein Kriegsopfer. Denn 1940, gerade als er vor den Kriegen des alten Kontinents in die Vereinigten Staaten geflohen war, begann dort der Siegeszug der Kulturindustrie und der Massenmedien. Dalí erlag ihren Reizen und ging darin auf wie die Eiswürfel, die er in seinem Lieblingsrestaurant „Duran“ gelegentlich in die Nudelsuppe fallen ließ (das Restaurant in Dalís Geburtsort Figueres bietet übrigens zum Dalí-Jubiläum „Entenfuß, sodomisiert von anthropomorphen Birnen“. In Figueres befindet sich auch das Dalí-Museum).

Dalí bereitete sich einen angemessenen Empfang in den Vereinigten Staaten. Bereits vor seiner Ankunft ließ er Flugblätter mit dem Titel „New York empfängt Dalí“ von einem Flugzeug auf die Stadt regnen. Für den folgenreichen ersten Kontakt mit der amerikanischen Presse sorgte die Schriftstellerin und Verlegerin Caresse Crosby noch im Hafen von New York – jene Frau, die später unter anderem als Erfinderin des Büstenhalters in die Geschichte einging. Das Ergebnis war, dass in den Morgenausgaben des nächsten Tages das Porträt von Dalís Muse und Gattin Gala mit Lammkoteletts auf ihren Schultern den Platz eingenommen hatte, der sonst den täglichen Pin-up-Girls vorbehalten blieb.

Das war ein guter Anfang. Noch aber fehlte die gültige Weihe zum Popstar. Heute wissen wir, dass es günstig ist, wenn dabei etwas kaputt gemacht wird, sei es auf der Bühne oder im Hotelzimmer. In den Dreißigerjahren aber betrat Salvador Dalí in dieser Hinsicht noch Neuland, und zwar auf Manhattans Fifth Avenue. Wie schon drei Jahre zuvor, so war er auch 1939 beauftragt worden, ein Schaufenster des Kaufhauses „Bonwit Teller“ zu dekorieren. Als er am nächsten Tag sah, dass man heimlich und gegen seinen Willen die Dekoration verändert hatte, weil man sie vielleicht doch als ein wenig zu herausfordernd empfand, eilte er aufgebracht ins Fenster und brachte das Glas vor der staunenden Menge zu Bruch. Dalí musste für einige Stunden ins Gefängnis, bis ein Richter dem Künstler das Recht beschied, sein Werk „bis zum Äußersten“ zu verteidigen.

Was tut’s, dass die Badewanne, die zur Installation gehörte, nur versehentlich ins Fenster geglitten war? Ein Weltstar war geboren. Und eine taugliche Methode, mit der dieser ein solcherart erschlossenes Publikum zukünftig bedienen konnte – ein Publikum, das noch nie etwas vom Surrealismus gehört hatte und das ihm nun zu Füßen lag – gierig nach all den „kritisch-paranoischen“ Leckereien schnappend, die ihnen der Meister zum Angebot machte. Dalí flutete fortan die visuelle Sphäre mit seinem ikonischen Repertoire – weiche Uhren, faltige Spiegeleier und schmelzende Camemberts ergossen sich in alle zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle, bis uns irgendwann der Dalí wieder hochkam.

Es war nur natürlich, dass Dalí zunächst den Versuch unternahm, in Hollywood Fuß zu fassen. Dem Kino hatte er in Buñuels „Un chien andalone“ mit dem berühmten, von einem Rasiermesser aufgeschlitzten Auge bereits ein unvergessliches Urbild beschert. Doch Dalí dachte nicht daran, sich zum Vater des Arthouse-Kinos zu machen. Im Gegenteil: Ein Film, so Dalí, habe zu sein wie ein Auto, ein Flugzeug oder ein Grammofon. Die Werke der Marx Brothers – reinster Surrealismus! Harpo Marx schickte er eine mit Stacheldraht bezogene Harfe (deren Empfang Harpo mit einer Aufnahme seiner bandagierten Hände bestätigte) und schlug ihm einen Film vor – eines jener vielen Filmprojekte, die nie umgesetzt wurden.

Seinen Umtrieben in Hollywood ist es allerdings zu verdanken, dass wir es uns bequem machen können auf den Lippen jener Frau, deren „runde Muskeln“ von Dalí als „drohende Gefahr“ identifiziert wurden für die verhasste Ästhetik der Moderne. Zu Ehren der voluminösen B-Movie-Ikone schuf er sein erstes anthropomorphes Möbelstück – das Mae-West-Lippensofa.

Bis dahin hatte Salvador Dalí nur wenige Skulpturen geschaffen, unter Anwendung der surrealistischen Methode des schöpferischen Automatismus. Fortan machte er sich einen ganz anderen Automatismus zu Eigen: die Herstellung kommerziellen Designs in Serie. Die Dalínisierung der Welt nahm ihren Ausgang: Cognacflaschen und Plattencover, Krawatten und Aschenbecher, Parfümflakons und Schminkschatullen, Kommoden und Fernsprechapparate – jede Bedarfs- oder Luxusware eignete sich zum Träger Dalí’scher Antimoderne.

Dalí machte Mode. Mit Elsa Schiaparelli, die ohnehin eine gewisse Nähe zu den Surrealisten pflegte, verband ihn eine enge Zusammenarbeit, mit Coco Chanel sogar Freundschaft. Dalí machte Druck. Er gestaltete für Vogue, Life Magazine und American Weekly; er illustrierte Casanova, Dante und die Bibel; schließlich brachte er die Dalí News heraus, in denen er all das publizierte, was er endlich einmal über sich selbst lesen wollte. Dalí machte Reklame. Zehn Millionen Dollar war der Satz „Ich bin verrückt nach Lanvin Schokolade“ wert, wenn er aus seinem Munde kam. Sein zweites „Brotkorb“-Gemälde wurde zum Symbol des Marshall-Plans. Doch vor allem war Salvador Dalí eines: Fleisch gewordene Werbung für sich selbst. „Ich glaube, dass mir die Werbung um ihrer selbst willen nicht gefällt“, sagt er 1965. „Was mir gefällt, ist, mir symbolisch zu beweisen, dass ich existiere.“

Dalí wollte dem imaginativen Fasten seiner Zeitgenossen ein Ende setzen

Das zerbrochene Fenster auf der Fifth Avenue hatte ihm den Weg gewiesen: der Meister des Surrealismus wurde zum Revolutionär des Marketing- und Publicitywesens. Er schuf Skandale und Kontroversen mit spektakulären Konferenzen und Happenings, tanzte Journalisten auf der Nase herum und machte sich zum Hampelmann für die Hippies ebenso wie für jene Schar amerikanischer Neureicher, die ihm jedes seiner Werke freudig abkaufte. Der Künstler war nun ganz Kaviar geworden.

Diese auf nichts als einer sich selbst reproduzierenden Zirkulation von Zeichen aufgebaute Aufmerksamkeitsökonomie, in der sich beide Seiten symbiotisch ergänzen – sie prägt die Sphäre des Öffentlichen heute mehr denn je. Salvador Dalí, das Genie unter den Surrealisten, hat sie erfunden. Er verwandelte sich in Dalí Enterprises, den Urtypus des Franchising, und schreckte auch nicht davor zurück, zehntausende Blankobögen mit seiner Unterschrift zu versehen, als er selbst mit der Produktion nicht mehr nachkam. Am Ende seines Lebens war vom strahlenden Trotz seines widersprüchlichen Wollens nur noch Leerlauf geblieben. Dalí wurde zur ausgelaugten, bemitleidenswerten Karikatur, einer im engen Wortsinn tragischen Gestalt.

Was hier nicht verschwiegen werden soll: Salvador Dalí stellte auch Gemälde her. Einige davon sollen ausgesprochen gut sein. Besonders beliebt waren seinerzeit die so genannten Doppelbilder aus seiner kritisch-paranoischen Phase. Wer jemals den Versuch unternahm, die Figuren, die in optischen Täuschungen dieser Art angeboten werden, gleichzeitig zu sehen, wird enttäuscht feststellen, dass das beim besten Willen nicht möglich ist – sie schließen sich gegenseitig aus.

Auf ebendiese Weise hat wohl auch der selbstherrliche Angeber die anderen Dalís zum Schweigen gebracht: jenen Dalí, den selbst viele seiner Kritiker als den Maler des 20. Jahrhunderts mit dem wohl größten technischen Vermögen bezeichnen; den universalgebildeten, blitzgescheiten und fleißigen Dalí; den Dalí, der auch im hohen Alter noch zärtlich von seiner herrschsüchtigen Frau sprach; den im Grunde seines Herzens äußerst schamvollen Dalí, der darum bat, man möge ihm nach seinem Tod das Gesicht mit einem Tuch bedecken – sie alle verschwanden hinter dem Medienmonster.

Salvador Dalí hatte sich zum Fraß angeboten. Er wurde mit Haut und Haaren verschlungen.