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Archiv-Artikel

SPD-Basis kippt Koalitionsvertrag

Scherf geschockt, und seine Genossen irgendwie auch: Nach stundenlangem Herumgehaue auf der Parteiführung stimmen die Delegierten des Unterbezirks Stadt geheim ab – gegen den Vertrag. Aus einem Denkzettel wurde eine handfeste Ohrfeige

taz ■ Als einer meinte, „mit 70 Prozent geht‘s durch“, da grinste Henning Scherf noch, krauste die Nase und gab sich vorsichtig: „Nee, mit 55 Prozent.“ Als es dann gar nicht durchging, als 93 Delegierte des Parteitags der SPD Bremen-Stadt mit Nein zum vorliegenden Koalitionsvertrag stimmten und nur 80 mit Ja – da sagte Scherf gar nichts mehr. Da stand er auf und ging.

Der SPD-Unterbezirk Bremen-Stadt, der größte, dessen Entscheidungen als richtungsweisend gelten, dieser Unterbezirk also hat am Montagabend im Bürgerzentrum Neue Vahr abgelehnt, was SPD- und CDU-Chefs in tagelanger Kleinarbeit ausgehandelt hatten. Von wegen „sozialdemokratische Handschrift“, die die SPD-Basis so vehement eingefordert hatte: „Es gab einen Sieger der Wahl – Henning Scherf“, begann Wolfgang Grotheer, SPD-Chef des Unterbezirks Bremen-Stadt und mit am Tisch der Koalitionsverhandler, und die Kunst der Formulierung mochte den Grad der Distanz ausdrücken, „dieses Ergebnis findet sich auch im Ergebnis der Koalitionsverhandlungen wieder. Ich glaube, ihr versteht, dass damit die Frage beantwortet ist, wessen Handschrift die Koalitionsvereinbarung trägt.“

Der Rest der Genossen drückte seinen Unmut klarer aus. „Leute, ich versteh‘ nicht, warum die SPD das macht“, befand Juso-Chef Thomas Ehmke: „Selektion ab Klasse 4 – das ist das, was wir nicht gewollt haben“. Die Koalitionsvereinbarung gut zu heißen, sei „Selbsttäuschung“, erklärte Frank Schmitz, Unterbezirks-Vize. Ein „Schlag ins Gesicht“ sei die Regelung zum SPD-Programm „Vitale Stadtviertel“. Das Hollerland, „ein Symbol in der Auseinandersetzung“, sei „ohne Not hergegeben worden“, so Schmitz weiter. Im Sozialbereich „hauen wir auf die Schwächsten der Schwachen.“

„Weiterwurschteln auf ganz niedrigem Niveau“, fasste Jürgen Maly, SPD-Ortsvereinsvorsitzender im Buntentor, seine Sicht der Dinge zusammen. Der Koalitionsvertrag sei ein „Überrumpeln, eine Täuschung der Partei und der Menschen.“

Während die Basis auf Schaum war, versuchten die Mandatsträger unter den Genossen, den Koalitionskompromiss zu verkaufen. „Wir müssen die Aufgaben, die jetzt entwickelt wurden, annehmen und unsere Spielräume ausweiten“, beschwor Carmen Emigholz den Saal. „Ihr müsst das große Ganze im Blick haben“, rief Sozialsenatorin Karin Röpke, „wir dürfen uns nicht vor der Verantwortung drücken.“ „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie wir um jeden einzelnen Satz gekämpft haben“, rechtfertigte sich Bildungssenator Willi Lemke. Ein „Gutteil enttäuscht“ zeigte sich der baupolitische Sprecher, Carsten Sieling, dennoch sei der Vertrag ein „Katalog von Prüfaufträgen“, der Gestaltungschancen biete.

Henning Scherf hatte ganz am Anfang die Haushaltslage und damit die Sparbeschlüsse beschworen, die sei „so ungemütlich und so schwer zu vermitteln, dass es niemand wissen will.“ Den umstrittenen Bildungskompromiss interpretierte der Boss so: „Inzwischen sind wir voll auf der Gesamtschulschiene“, aber das „langsam und behutsam mit dem Elternwillen“.

SPD-Fraktionschef Jens Böhrnsen erklärte, auch mit den Grünen würde der Vertrag zu 90 Prozent gleichlauten: „Das ist hier kein Wolkenkuckucksheim.“ Dennoch verbarg Böhrnsen sein Unbehagen nicht: „Ich bin sicher, das ist der Weg in das endgültige Ende der großen Koalition.“

„Überlegt euch sehr genau, wie ihr abstimmt“, hatte Karin Röpke vor der geheimen Abstimmung zu den Delegierten gesagt. Als das Ergebnis stand, als Scherf wortlos gegangen war, da war so etwas wie Fassungslosigkeit zu spüren, wie Irritation darüber, was eine Basis bewirken kann. Ein Antrag auf Nachverhandeln wurde mit großer Mehrheit abgelehnt, die SPD-Senatoren hingegen mit großer Mehrheit sämtlich erneut nominiert.

Und jetzt? Gestern Abend nach Redaktionsschluss tagten die Seestadt-Genossen, am Donnerstag sind die Bremen-Norder dran. Am Freitag ist Landesparteitag. Er entscheidet schlussendlich über die Annahme des Koalitionsvertrages. SPD-Landeschef Detlev Albers erklärte gestern: „Wir müssen offenbar noch stärker als bisher um Verständnis für die ausgehandelten Kompromisse werben.“

Susanne Gieffers