: Im Bann des Muttermythos
Wer sein Kleinkind zu Hause hält, raubt ihm wichtige Entwicklungschancen. Die deutsche Politik hat den Kindergarten als Bildungsort erkannt, mehr nicht
VON HEIDE OESTREICH
Es ist eine herzzerreißende Szene: Laut heulend klammert sich die Zweijährige an den Vater. Er soll nicht gehen und sie alleine in der Gruppe lassen. Eine Urszene. Der Vater verabschiedet sich trotzdem, umarmt das Mädchen noch einmal lange – und geht.
Noch immer wird vielen, vor allem westdeutschen Eltern flau bei einer solchen Szene. Ist es nicht zu früh? Soll das Kind nicht noch eine Weile zu Hause bleiben? Der deutsche Lehrfilm mit der ergreifenden Szene wurde in Schweden gedreht. Dort gehen 84 Prozent der Kinder in die Vorschule, bevor sie zwei Jahre alt sind. Ja, in die Vorschule. Kindergärten gibt es in Schweden seit 1975 nicht mehr. Kinder werden hier nicht „betreut“, nicht „erzogen“. Sie werden gebildet.
„Was wollen wir morgen essen?“, fragt die Köchin im Film. Die Kinder überlegen: Melonen – sind zu teuer, sagt die Köchin. Lieber Äpfel. Man könnte doch Krapfen backen. Man einigt sich. Die Kinder lernen, Wünsche zu artikulieren, Ziele zu haben und deren Umsetzung zu verfolgen. Die weinende Zweijährige, die ihren Vater vermisst, lernt, dass, wenn sie traurig ist, sie getröstet wird und auch wieder froh sein kann. Die anderen Kinder lernen, was es heißt, Rücksicht auf ein trauriges Kind zu nehmen. Morgen werden sie ins Kochbuch schauen, obwohl sie nicht lesen können, und Apfelkrapfen backen. Das Bildungsziel heißt: sich wahrnehmen, die eigene Leistung wertschätzen, auf andere eingehen und die Lust aufs Lernen behalten. So wollen es die Richtlinien im nationalen Curriculum für Kinder von eins bis fünf Jahren. Mit viel Muße soziale Kompetenzen ausbilden, die manche zu Hause nie erwerben würden. Und die ihnen den weiteren Lernweg erleichtern.
Seit die Pisa-Studie amtlich nachwies, dass die Deutschen immer blöder werden, schauen nicht mehr nur Bildungsexperten nach Schweden, etwa auf der Tagung „Bildungskulturen des Aufwachsens“ kürzlich in Berlin, bei der Donata Elschenbroich vom Deutschen Jugendinstitut den Schweden-Film vorführte. Auch die Politik erkennt, dass die Kinderbetreuung zu Hause oder in der Halbtagskita den Kleinen Entwicklungschancen raubt. Sei es, weil sie aus einem bildungsfernen Kontext kommen, sei es, weil zu Hause schlecht Deutsch gesprochen wird. Oder weil die Eltern schlicht zu viel zu tun haben, um dem Nachwuchs optimale Bedingungen zu bieten.
Es ist der alte Muttermythos, der die bundesdeutsche Politik immer noch im Bann hält. Internationale Forschung, die die Überlegenheit guter Gruppenbetreuung gegenüber der Bemutterung nachwies, wird ignoriert; staatliche Kinderbetreuung bedeutet schlechte Kinderbetreuung, so ist es vor allem im Westen gespeichert. Dass man in dieses System investieren könnte, um es zu verbessern, ist immer noch nicht so recht angekommen. Ein Sonderweg.
In Frankreich ist es seit Anfang des 20. Jahrhunderts normal, dass der Staat die Kinder mitversorgt. Es gilt als Gewinn, dass der Staat der katholischen Kirche den Zugriff auf die Kinder entzog. Die „École Maternelle“, die ganztägige Vorschule für Kinder ab drei Jahren, ist kostenlos – und bereitet spielerisch auf die Schule vor. Um einiges radikaler hat Schweden sein System der Kinderbildung umgestellt. Seit 1975 beginnt die „Vorschule“ im zarten Alter von null Jahren. Mindestens ein Betreuer in einer Kindergruppe muss das Fach „Frühkindliche Bildung“ an der Uni belegt haben. Drei Erwachsene versorgen etwa 15 Kinder – ein Schlüssel, von dem Kita-Kräfte in Deutschland nur träumen können. Diese intensive Betreuung macht aber erst möglich, dass man auf die psychische Entwicklung jedes Kindes Acht geben kann. Schwedische Eltern sind deshalb überzeugt, dass die Kinder in den „Vorschulen“ besser aufgehoben sind als zu Hause.
Auch Großbritannien hat die Zeichen der Zeit erkannt. Eine Kindheitsministerin wurde von Tony Blair berufen, im ganzen Land werden „Children Centers“ entwickelt, in denen Kindergärten, Grundschulen und Elternbildung verknüpft sind. Die Vorstufe dazu, die „Early Excellence Centers“, haben in der internationalen Bildungsforschung für Furore gesorgt. In deindustrialisierten Städten waren teilweise bis zu 50 Prozent der Erwachsenen arbeitslos. Sie wurden eingeladen, sich für die Entwicklung ihrer Kinder zu interessieren. Darüber haben sie auch für sich einen neuen Zugang zum Thema Lernen und Lebensqualität entwickelt. Der Erfolg ist erstaunlich: Die Eltern bilden Gruppen, die sich über Ernährung Gedanken machen, über Perspektiven nach der Scheidung, sie leihen Videokameras, um Entwicklungsschritte ihrer Kinder zu verstehen und zu dokumentieren. Bis 2010 sollen 2.500 Children Centers entstehen.
Und Deutschland? Beginnt, wenn zufällig Geld da sein sollte, die Ganztagsbetreuung auszubauen. Gegen den Widerstand der CDU-Länder. Von Qualifizierung oder kleineren Gruppen ist gar keine Rede. Die Bemutterung ist noch lange nicht zu Ende.