Ein Roman über rein gar nichts

Wer spricht? Man weiß es nicht. Aber wer schreibt in der Moderne? Immer ein Poststrukturalist! München hat ein nagelneues Flaubert-Zentrum. Zur Eröffnung kam Jonathan Culler, Autor literaturtheoretischer Standardwerke

Es ist eine echte Bilderbuchkarriere, auf die der Literaturtheoretiker Jonathan Culler zurückblicken kann. Harvard, Oxford, Cambridge, Yale – das beeindruckt die Münchner, obschon sich ihre Ludwig-Maximilians-Universität auch zur „Elite“ deutscher Hochschulen zählen darf. Entsprechend hoch waren die Erwartungen des Publikums im überfüllten Senatssaal, als Culler nun anlässlich der Eröffnung eines internationalen Flaubert-Zentrums die Frage „Why Flaubert?“ zu beantworten suchte.

1974 hatte Culler sein erstes Buch zu Flauberts „Uses of Uncertainty“ veröffentlicht. Da der Begriff der Unbestimmbarkeit auch im Zentrum seines Münchner Vortrags stand, mag man den Verdacht hegen, Culler habe sich in den vergangenen 35 Jahren kaum weiterentwickelt – oder aber man erkennt an, dass er damals ein ziemlich gutes Buch geschrieben hat. Doch während die Literaturprofessorin Barbara Vinken es verstand, in ihrer Einführung aktuelle Fragestellungen anzureißen, und die Relevanz des Flaubert’schen Werks für die Literaturtheorie hervorhob, verfuhr Culler ganz anders.

Wie er anhand eines Briefzitats belegte, verfolgte Gustave Flaubert das Ideal, ein Buch über nichts zu schreiben, ein Buch, das keinen Realitätsbezug nötig hätte, das sich allein durch seinen Schreibstil tragen würde. Flaubert, so Culler, ginge es mehr um Poetik als um Hermeneutik, mehr um die stilistische Verfasstheit des literarischen Textes als um dessen Verstehen durch den Leser. Wie kein anderer vor ihm habe Flaubert das Ringen des Autors um die passende Formulierung, die Qual des Künstlers, etabliert – doch die Mühen des Schreibens waren dem fertigen Text nicht mehr anzumerken und sollten es auch nicht sein. So war es nur folgerichtig, dass Flauberts berühmtester Roman „Madame Bovary“ 1857 vom Vorwurf moralischer Anstößigkeit freigesprochen wurde: ein früher und wichtiger Schritt zur Anerkennung des autonomen Kunstwerks, dessen Aussagen nicht mit denen seines Autors gleichzusetzen waren.

Flauberts Erzählperspektive war für seine Zeit höchst unkonventionell. Culler zufolge jedoch verwendete dieser Klassiker der Moderne weder einen allwissenden noch einen personalen Erzähler, dessen Sichtweise er in den Vordergrund gerückt hätte. Auch die Option des Ich-Erzählers, der am Anfang von „Madame Bovary“ aufscheint, später aber nie mehr vorkommt, stellt keinen Fauxpas dar.

Anstatt sich die Perspektive einer einzelnen Figur zu eigen zu machen, entwickelt Flaubert einen weitgehend anonymen Erzähler, der sich nicht lokalisieren, geschweige denn fixieren lässt und die Antwort auf die Frage „Wer spricht?“ schuldig bleibt. Diese Beobachtung Roland Barthes’ entwickelt Culler weiter, indem er die Flaubert’sche Ironie thematisiert, die sich keiner Stimme eindeutig zuordnen lässt und dadurch unbestimmt bleibt. Wenn Fréderic, in „L’Éducation sentimentale“, in einem Moment größten persönlichen Glücks beim Quietschen einer Brunnenkette unaussprechliches Vergnügen empfindet, dann bleibt offen, ob er selbst, ob der Erzähler, ob Gustave Flaubert diese Gefühlsregung ironisch unterlegen.

Warum also Flaubert? Seine größte Stärke, so Culler, bestünde darin, traditionelle Romantechniken nicht nur zu thematisieren, sondern auch zu hinterfragen – die Kategorien eines allwissenden oder Ich-Erzählers, oder eines personalen Reflektors, werden parodiert und letztlich unterhöhlt. Strukturen werden aufgerufen, um im selben Augenblick schon wieder dekonstruiert zu werden: Das nennt sich dann Poststrukturalismus, und um den hat sich Flaubert, so scheint Culler zu suggerieren, avant la lettre kaum weniger verdient gemacht als der Vortragende selbst.

Strukturalismus und Dekonstruktion, das sind berühmte Schlagwörter und große Angstmacher. In seinem Münchner Vortrag kam Jonathan Culler, der Autor der literaturtheoretischen Standardwerke „Structuralist Poetics“ (1975) und „On Deconstruction“ (1982) ganz ohne sie aus. Gerade so, wie er Studienanfängern mit „Literary Theory: A Very Short Introduction“ (1997) den Schrecken vor der grauen Theorie nimmt, so hat er seinem Münchner Publikum am Mittwoch sachte den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalen untergejubelt.

MARGRET FETZER