: Aus dem Osten in den Osten
Billiges Bratislava, teures Dresden? Der Streik gefährde die ostdeutsche Wirtschaft, fürchten Experten
BERLIN taz ■ In Zeiten des Tarifkampfs gehören apokalyptische Visionen zu den gängigen Waffen im Kampf um die öffentliche Meinung. Der Metallerstreik im Osten werde in den EU-Beitrittsländern aufmerksam verfolgt, zitierte die Chemnitzer Freie Presse gestern Michael Rogowski, Chef des Bundes der Deutschen Industrie. Die osteuropäischen Staaten seien ernst zu nehmende Konkurrenten, wenn es um Industrieansiedlungen gehe. Auch Matthias Platzeck, Ministerpräsident in Brandenburg, sagt, der Streik schade massiv dem Standort Ostdeutschland. Was aber ist dran an dem Argument, Ostdeutschland büße durch den Streik seine Standortvorteile gegenüber den künftigen EU-Staaten im Osten ein?
„Wenn Unternehmen einen Standort suchen, spielen nicht nur Löhne und Arbeitszeiten eine Rolle“, wiegelt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin ab. Bei Industrieansiedlungen sei wichtig, dass Autobahnen und Flughäfen vorhanden seien. „Polen und Tschechien bieten zwar niedrige Löhne, haben aber schlechte Verkehrsanbindungen“, sagt Brenke.
Dem widerspricht Ferdinand Dudenhöffer, Professor für Automobilwirtschaft in Gelsenkirchen. Die erfolgreich arbeitenden VW-Werke im slowakischen Bratislava und dem ungarischen Györ zeigten, dass Osteuropa gut ausgebaut sei. „Außerdem ist der Trend zur Abwanderung von Firmen nicht neu; wir erleben derzeit sogar eine Verschärfung“, sagt Dudenhöffer. Das belege eine gemeinsame Studie seines Lehrstuhls, der Beratungsagentur PriceWaterhouseCoopers und der Stadt Leipzig, die Ende 2002 veröffentlicht wurde. Ein Viertel der Investitionen deutscher Automobilzulieferer sei in den letzten fünf Jahren nach Osteuropa geflossen, nur ein Sechstel in Deutschland verblieben. Der Rest verteile sich auf Westeuropa und Übersee.
Dudenhöffer sieht in den niedrigen osteuropäischen Löhnen ein wichtiges Abwanderungsmotiv. Im verarbeitenden Gewerbe müssen Arbeitgeber in Polen oder Ungarn im Schnitt nur vier Euro pro Stunde zahlen. Eine ostdeutsche Arbeitsstunde kostet 16,50 Euro, eine westdeutsche 25,80 Euro.
Hinzu kommt, dass Ostdeutschland in einem Jahr mit den osteuropäischen Staaten um EU-Subventionen konkurrieren wird. „Damit verschlechtern sich hier die Bedingungen für Ansiedlungen“, sagt Dudenhöffer. Denn das meiste Fördergeld überweist die EU in jene Regionen, in denen das Bruttoinlandsprodukt weniger als 75 Prozent des europäischen Durchschnitts beträgt. Nach der Erweiterung werden nur noch die Regionen Dessau und Chemnitz dieses Kriterium erfüllen. Zwar werden Übergangsregelungen gelten, doch Investoren können mittelfristig mit weit mehr Geld rechnen, wenn sie Fabriken in Osteuropa bauen statt in Ostdeutschland.
Nicht alle Branchen sind jedoch gleich mobil. „Je einfacher die Tätigkeit, desto größer die Abwanderungsbereitschaft“, bringt es Herbert Buscher vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle auf den Punkt. Vor allem für Firmen, die Personal für wenig kreative Tätigkeiten suchten, sei Osteuropa attraktiv. „Die Technologie wird weiterhin aus den westlichen Entwicklungsabteilungen kommen“, sagt Buscher. Die meisten Firmen suchten in Osteuropa eine „verlängerte Werkbank“ – wie vor 13 Jahren in Ostdeutschland. MATTHIAS BRAUN